Sommerlicht Bd. 5 Aus dunkler Gnade
Bäume. Sie waren noch immer schneebedeckt, aber in wenigen Wochen würde der Frühling anbrechen. Also atmete sie aus und schmolz die gefrorenen Äste. In den kommenden Wochen würde sie täglich stärker werden, und da Donia nicht versuchen würde, den Winter zu verlängern, gab es keinen Grund, nicht heute schon damit anzufangen, die Erde zu erwärmen. Sie spürte ein Kribbeln auf der Haut, als ihr klar wurde, wie nah der Sommer schon war.
Darin lag viel Kraft, wenn man sie zu nutzen verstand; das wusste sie jetzt. Im letzten halben Jahr, in dem Keenan nicht da gewesen war – und Seth all ihre Bemühungen um ein Zusammensein abgewiesen hatte –, hatte sie sehr viel über das Dasein als Sommerkönigin gelernt. Es fiel ihr zunehmend leichter, ihr Naturell zu akzeptieren, und dass andere Elfen eine ihr fremde Wesensart hatten, akzeptierte sie inzwischen fast reflexartig. In Wahrheit hatte sie in der Zeit ohne ihren König mehr gelernt, als sie erwarten konnte.
Leider besaß sie nicht das Selbstvertrauen, das Donia ausstrahlte – noch nicht. Aber eines Tages werde ich das. Setz dich durch. Glaub an dich. Sie lächelte in sich hinein. Manchmal unterschied sich das Leben als Sommerkönigin gar nicht so sehr von dem als Sterbliche mit Sehergabe: Auch hier gab es Regeln, Mahnungen und die Notwendigkeit, sich nach außen hin anders zu geben, als sie sich eigentlich fühlte. Und wenn ich versage, wird das schreckliche Folgen haben.
Sie hatte gerade einen Fuß auf den Gehsteig gesetzt, war aber noch nicht bei ihren Wachen, als ein ihr unbekannter Elf plötzlich wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte.
»Brauchst du Begleitung?«, fragte er.
Auf den ersten Blick glaubte sie, einen von Donias Elfen vor sich zu haben, da er ebenso bleich schien wie der Schnee um sie herum. Doch als sie genauer hinsah, wirkte er mit einem Mal so dunkel wie der Himmel bei Neumond. Licht und Dunkelheit wechselten sich auf seiner Haut ab und seine Augen flackerten jeweils entgegengesetzt. Sie runzelte die Stirn und versuchte, aus ihm schlau zu werden.
Ihre Augen wanderten immer wieder zu seinem grellroten Hemd. Es war wirklich ein Blickfang. Abgesehen von der aufdringlichen Farbe lag es an der Brust und den Armen so eng an, dass es bei den meisten Leuten lächerlich ausgesehen hätte. Bei ihm wirkte es jedoch ganz natürlich. Trotz der Kälte trug er keinen Mantel über dem dünnen Hemd. Sie versuchte, ihm in die Augen zu schauen, musste den Blick jedoch erneut abwenden.
»Du gewöhnst dich gleich daran«, sagte er.
»An was?«
»An das Flackern. Ich werde mich für die Dauer unseres Besuchs auf das eine oder das andere festlegen.« Er zuckte mit den Schultern und noch während er es aussprach, tat er genau das: Seine Haut wurde so dunkel wie alle Farben zusammengenommen und seine Augen verloren jeden Farbton.
»Oh.« Irgendwie hatte sie geglaubt, Elfen könnten sie nicht mehr überraschen, aber nun war sie sprachlos. Sie suchte in ihrem Gedächtnis nach einer Erklärung für ihn, doch er war anders als alle Elfen, die sie bislang kannte – was nicht gerade beruhigend war. Sie setzte eine Miene auf, die genau die Selbstsicherheit vorspiegelte, die sie gern empfunden hätte – das Selbstvertrauen, das einer Sommerkönigin gebührte.
»Du bist nicht in Gefahr. Ich bin aus anderen Gründen in dein« – er machte eine ausladende Geste – »Dorf gekommen, als dich zu treffen, aber ich bin fasziniert.« Der Elf lächelte sie an, als hätte sie etwas getan, worauf sie stolz sein könnte. »Ich führe dir gegenüber heute nichts Böses im Schilde, Sommerkönigin. Und wenn ich bessere Manieren hätte, hätte ich das auch gleich gesagt.«
Heute nichts Böses?
So weit außerhalb ihres Parks, vor Frühlingsanbruch und noch dazu in der Kälte stehend, befand Ashlyn sich nicht gerade im Vollbesitz ihrer Kräfte. Doch sie konzentrierte sich darauf, Sonnenlicht in ihre Hand strömen zu lassen für den Fall, dass sie sich verteidigen musste. »Ich fürchte, du triffst mich unvorbereitet. Ich weiß nicht, wer du bist und was du hier machst.«
»Ist das eine Frage, Ashlyn?« Der Elf schaute sie an. »Mir stellen nicht viele Leute Fragen.«
»Hat das Fragen denn einen Preis?« Ihre Nervosität wuchs. Als Elfenmonarchin war sie vor den meisten Bedrohungen sicher, doch zwei der anderen Regenten hatten sie bereits verletzt – Elfen, denen sie vertraut hatte. Daher wusste sie nur zu gut, dass sie Verletzungen gegenüber nicht immun war. Ihr
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