Sommerlicht Bd. 5 Aus dunkler Gnade
Sekunden riss Alba mit ihren Vorderpranken die Tür zur Lagerhalle ein. Anders als das Ross ihres Partners änderte Chela seine Gestalt, wie manche Leute ihre Kleider wechselten. Alba war jedoch nicht etwa überdreht, nur etwas unbeholfen, was Gefühle anging. Er wählte seine jeweilige Gestalt, um seinen Stimmungen Ausdruck zu verleihen. Die Tatsache, dass Gabriel vermisst wurde, veranlasste Alba dazu, in Löwengestalt aufzutreten, wild und ungestüm und bereit zur Jagd.
Geht mir ganz genauso, Alba. Chela streichelte das kurze, dichte Fell ihres Rosses und fügte dann an den Rest der Meute gewandt hinzu: Sollte Gabriel … nicht mehr sein, kennen wir keine Gnade.
Keiner der Hunde antwortete, doch sie alle wussten, dass ihr Gabriel entweder tot oder schwer verwundet war. Als seine Stellvertreterin hätte Chela sich sonst gar nicht nonverbal mit ihnen verständigen können. Aber sie hatte noch Hoffnung. Sie und Gabriel mochten ja einigen Streit miteinander gehabt haben – unter anderem über seine Neigung, während der Zeiten, in denen sie über die Jahre getrennt gewesen waren, halbsterbliche Kinder zu zeugen –, doch sie waren sich so treu, wie Hunde es eben vermochten.
Er ist noch nicht tot, sagte sie erneut zu Alba. Wenn diese Worte Lügen wären, könnte ich sie nicht aussprechen.
Ihr Ross war zu höflich, um sie daran zu erinnern, dass Meinungsäußerungen nicht derselben Regel unterlagen wie Lügen, aber eigentlich wussten sie es beide. Wenn Gabriel tot war, würde sie tun, was sie tun musste. Ob tot oder lebendig, er war auf jeden Fall so schwer verletzt, dass sie an seiner Stelle agierte.
Das wird Bananach noch leidtun, knurrte Alba. Wir werden nicht lockerlassen.
Die Elfenhöfe hatten die Dinge zu lange schleifenlassen. Die Wilde Meute besaß nicht so viel Geduld. Gabriel hatte Jagd auf Bananach gemacht. Das zeigte der Meute klar und deutlich, wie er zu der Frage, wie man mit der Kriegselfe verfahren sollte, stand.
Wir werden den Kampf zu Ende führen, den unser Gabriel begonnen hat, sagte Chela zu den Hunden, die ihr in die Lagerhalle des Hofs der Finsternis folgten.
Sie verstummten, als sie die Befürchtung bestätigt sahen, die sie hierhergeführt hatte: Bananach saß auf dem Thron. Die Rabenelfe hackte mit dem Schnabel in ihre Richtung, während die Wilde Meute in den riesigen Raum stürmte. Sie blieb kerzengerade sitzen, legte ihre Füße übereinander und ließ die Arme entspannt über die Lehnen des schwarzen Throns baumeln. Ihre Schwingen waren zu beiden Seiten nach vorn geklappt, so dass es aussah, als umgäbe sie ein riesiger Schild.
Ly Ergs und andere, ihr unbekannte Elfen warteten um sie herum. In der Menge waren auch einige Dunkelelfen, aber sie versteckten sich so gut es ging hinter anderen, als die Meute hereinkam. In der Dunkelheit sprühten Funken, als die Klauen, Hufe und Krallen der Rösser auf den Zementboden trafen.
Steigt nicht ab, befahl Chela.
Wo ist der König der Finsternis?, fragte einer der Hunde.
Seth ist eingesperrt, berichtete ein anderer. Links über dem Thron. Vogelkäfig.
Ist er verletzt?, fragte Chela.
Wieder ein anderer Hund antwortete: Schwer zu sagen. Er bewegt sich nicht. Aber ich glaube, er lebt.
Wenn er tot ist, dann erst ganz kurz, sagte der erste Hund.
Trotz dieses Durcheinanders von Stimmen in ihrem Kopf blieb Chelas Miene undurchdringlich. Sie schaute die Kriegselfe an, der offensichtlich ein Durchbruch gelungen war.
Einmal gerade durch die Mitte, Alba.
Chelas Ross stolzierte auf die Rabenelfe zu.
»Gabrielle!«, krähte Bananach. »Bist du gekommen, um deiner Königin deine Hilfe anzubieten?«
Chela schaute Bananach direkt an. »Ich bin Chela, Gabriels Partnerin, stellvertretende Anführerin seiner Meute.«
»Du bist Gabrielle, und ich bin die Königin der Finsternis … und das hier« – Bananach breitete ihre Arme weit aus – »ist mein Hof.«
»Nein. Es gibt keine Königin der Finsternis«, stieß Chela hervor.
Alba knurrte zustimmend unter ihr. Die versammelten Elfen – die ganze übergelaufene Menge – traten nervös auf der Stelle, als auch andere Rösser und Hundselfen in Albas Knurren einstimmten.
»Und doch bin ich hier.« Bananach hielt inne, als wäre sie verwirrt. »Nein, ich bin ganz sicher. Ich bin hier die Königin, und ich könnte die Wilde Meute gebrauchen. Da ich ihn getötet habe – den letzten Gabriel –, liegt diese Entscheidung wohl bei dir, Chela.«
Gabriel ist tot. Mein Gefährte. Chelas Hand
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