Sommerlicht Bd. 5 Aus dunkler Gnade
hier?«
»Ja, ist er. In deinem Körper.«
»Ich bin nicht verrückt?«
Keenan schüttelte den Kopf, dann blickte er demonstrativ auf die Zigarette, die gerade ein Loch in sein Hemd brannte. »Obwohl ich dafür meine Hand nicht ins Feuer legen würde, Niall, aber du bist nicht deshalb verrückt, weil du glaubst, dass Irial hier ist. Er ist hier, bei dir, irgendwie.«
Niall ließ ihn schweigend los. »Ich kann ihn hören. Ich dachte schon … Ich dachte, ich wäre schizophren.«
»Du hast Seth eingesperrt. Du hast deine Elfen aufgespießt.« Keenan schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nicht vor, so zu tun, als würde ich verstehen, was du treibst, aber was immer sonst mit dir los ist, ihn bildest du dir nicht ein. Er hat mir etwas von miteinander verknüpften Träumen erzählt. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?«
Niall wandte Keenan den Rücken zu, aber er nickte.
»Er hat auch gesagt, dass eure gemeinsamen Träume real sind«, fügte Keenan hinzu.
Bei dieser Äußerung erstarrte der König der Finsternis. Seine plötzliche Stille alarmierte Keenan, und der peinliche Moment dehnte sich immer länger aus. Schließlich sagte Niall: »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
»Er hat dich verletzt«, sagte Keenan einfach. »Ich weiß noch, wie du mich angesehen hast, als ich dich als Kind einmal nach deinen Narben gefragt habe. Er hat zugelassen, dass sie dir wehtun, hat nichts getan, um deine Sicherheit zu gewährleisten. Ich verstehe nicht, wie du ihm verzeihen kannst, dass er dich damals im Stich gelassen hat.«
»Donia hätte deine Fehler beinahe mit dem Leben bezahlt.« Niall drehte sich zu ihm um. Seine Miene war undurchdringlich. »Du hast mich gegenüber dem Hof der Finsternis als Waffe benutzt. Bist du sicher, dass du über Vergebung diskutieren willst?«
»Ich habe Entscheidungen getroffen, die ich für das Beste für meinen Hof und mein Volk hielt – dich damals eingeschlossen.« Keenan ließ sich von dem Vorwurf in Nialls Blick nicht verunsichern. »Könige haben nicht immer die Freiheit, Emotionen über die Pflicht zu stellen.«
»Eben«, erwiderte Niall.
Ihre Diskussion hatte sich festgefahren. Keenan klammerte sich an seinen Hass auf Irial, aber er war erleichtert, dass Niall wieder mit ihm sprach wie ein zivilisierter Mensch.
Niall verließ das Zimmer und Keenan folgte ihm tiefer in die Reste dessen, was einmal das Zuhause des Königs der Finsternis gewesen war. Das Ausmaß der Zerstörung überraschte Keenan nicht weiter: Er wusste ja, dass Niall mit seiner Trauer nicht zurechtkam. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war der Anblick, der ihn erwartete, als sie ein Zimmer betraten, das mal ein Büro gewesen sein musste: In der Tür stand die Sterbliche, wegen der Niall wütend auf Keenan gewesen war.
»Was macht der denn hier?« Leslie verschränkte die Arme vor der Brust.
Der König der Finsternis wandte Keenan den Rücken zu. »Les? Ich dachte, du schläfst noch.«
Die Sterbliche ging mit einem Selbstbewusstsein durchs Zimmer, das in merkwürdigem Gegensatz zu der desolaten Verfassung stand, in der er sie zuletzt gesehen hatte. Sie stellte sich zwischen Niall und ihn und zeigte auf Keenan. »Wage es nicht, ihn aufzuregen.«
Keenan hob auf entwaffnende Weise die Hände.
»Er ist …« Sie schaute über ihre Schulter zu Niall, und ihre Wut verrauchte. »Er wird schon wieder. Er ist heute wieder viel klarer im Kopf, du kannst also einfach verschwinden.«
»Les?«
Sie schaute den König der Finsternis an.
»Wusstest du es?«, fragte er. »Das mit Iri?«
»Dass er gestorben ist?« Leslie nahm Nialls Arm und führte ihn weiter von Keenan weg. »Du hast es mir erzählt, aber ich wusste es schon, als ich herkam.« Sie warf einen schnellen Blick auf Keenan. »Wir haben darüber gesprochen. Als du aufgewacht bist, ging es dir besser als vorher, Niall. Du konntest nicht richtig denken, weil du so übermüdet warst. Jetzt geht es dir besser, und ich bleibe ein paar Tage und helfe dir dabei, die Dinge zu regeln, die … um die er sich immer gekümmert hat.«
»Er ist nicht tot«, sagte Niall zu ihr. »Er ist noch hier. Keenan hat gesagt …«
»Verschwinde«, zischte Leslie in Keenans Richtung und bewegte sich schneller, als eine Sterbliche es eigentlich können sollte, auf ihn zu. »Er ist aufgeregt, und was immer du gesagt oder getan hast, hat dafür gesorgt, dass es ihm wieder schlechter geht …«
»Irial steckt in Nialls Körper«, erklärte Keenan.
»Verschwinde!«
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