Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
gekämpft, habe meine ganze Kraft und Mannesstärke zusammengenommen, es war ein langer Kampf, aber jetzt habe ich keine Kraft mehr. Zu dir bin ich nicht gut genug gewesen, verzeih mir, ich habe immer nur dein Bestes gewollt. Komm nicht, denn ich habe mich vergangene Nacht erhängt. So sollst du mich nicht sehen, ein Erhängter ist ein jämmerlicher Anblick, viel schlimmer noch, wenn es dein eigener Vater ist. Dieses Bild würde sich in dein Gedächtnis einbrennen und dein ganzes Leben darin schwelen, das will ich nicht, und deswegen sollst du nicht ins Wohnzimmer kommen. Geh gleich nach draußen, aber vergiss nicht, dich vorher anzuziehen, es ist nicht gut für einen Mann, sich in einem roten Schlafanzug sehen zu lassen. Es ist jetzt zwanzig nach vier, fünf Stunden her, seit ich den letzten Tropfen getrunken habe, nur Feiglinge bringen sich im besoffenen Kopf um. Ich bin jetzt stocknüchtern. Du schläfst tief und fest, dein Mund steht ein klein wenig offen. Ich habe eben lange an deinem Bett gestanden und dich angesehen. Ich habe mich von dir verabschiedet. Du bist ein hübscher Junge, auch wenn ich es vorgezogen hätte, dass du ein Mann wärst. Aber du bist mein Sohn. Ich gehe jetzt, und du bist das Einzige, was ich auf dieser Welt zurücklasse. Sei stark! Beuge dich niemals, nie! Wenn das Weinen in dir aufsteigt, und das wird es, das ist keine Schande, dann geh raus und lauf eine Runde. Nichts reinigt den Kopf und beruhigt die Nerven besser. Aber denk dran, dass du so zwar das Weinen abschütteln kannst, aber nicht die Schatten. Jetzt lies diesen meinen letzten Willen zu Ende, dann zieh dich an, anständig (nicht das orange Hemd), und dann gehst du gleich zu Landrat Guðmundur und zu Sólrún. Bei der Haustür liegt ein Brief für sie, den sollst du ihnen übergeben, aber erst erzählst du, was passiert ist, bleib sachlich und lass alle Sentimentalitäten weg, sie bringen dich nur um deine Selbstbeherrschung und deine Würde. Guðmundur und Sólrún wissen, was zu tun ist, vertrau ihnen, aber sieh zu, dass das Seil, das ich benutzt habe, verschwindet. Es bringt nichts Gutes, es aufzuheben oder noch für anderes zu verwenden, Schatten kleben an ihm, bevorstehender Tod.
Ich begebe mich jetzt zum Wiedersehen mit deiner Mutter. Einen besseren Menschen als sie habe ich nie gekannt, sie hätte Anderes und viel Besseres verdient, aber gegen die Titanenkräfte des Schicksals kommt man nicht an. Erst muss ich wohl noch die Strafe für meine Kapitulation verbüßen. Ich werde versuchen, dieses Urteil aufrecht entgegenzunehmen. Ich weiß nicht, wie es ausfallen wird, ob ich zu einem Tag oder zu tausend Jahren verdammt werde. Ich habe daran gedacht, Johannes in seinem Tal aufzusuchen und ihn danach zu befragen, denn über so etwas redet man nicht am Telefon, aber jetzt ist es zu spät, die Entscheidung ist gefallen. Ich werde es jetzt sowieso bald wissen. Zeige Stärke und werde mehr als ich.
Dein Vater, Hannes Jónasson
Jónas las den Brief langsam, er betastete jedes Wort wie jemand, der in Dunkelheit oder dichtem Nebel nach einem Orientierungszeichen sucht, mehrfach las er Hallgrimurs Gedicht, verhielt lange bei dem Wort Vogelsang, fühlte Wärme davon ausstrahlen; dann erhob er sich, öffnete die Tür. Sein Zimmer lag am Ende des Hauses und der Flur lag vor ihm, ein tausend Kilometer langer Tunnel, in weiter Ferne das Esszimmer mit Bücherregalen an den Wänden. Es kostete Jónas sein halbes Leben, den ganzen Weg zurückzulegen.
Eine Stunde später suchte er Guðmundur und Sólrún auf. Er hatte seinen Vater hängen gesehen, den Kopf auf der Seite, er selbst stand in seinem roten Pyjama da, während ihm Urin die mageren Beine hinablief und in den hellen, schafbeigen Teppich sickerte. Hannes hätte das nicht gefallen, weder der Urin noch der Schlafanzug, jetzt fehlt dir bloß noch ein Teddybär, hatte er gesagt, als er Jónas zum ersten Mal in diesem roten Pyjama gesehen hatte. Jónas versuchte alles aufzuwischen, den Fleck trocken zu reiben, dann goss er Kaffee auf, schmierte sich ein Brot mit Leberwurst, trank zwei Glas Milch und eine Tasse Kaffee, stellte eine zweite Tasse gefüllt ins Wohnzimmer, ging dann ins Bad, feuchtete einen Waschlappen an, rieb Seife hinein und wusch sich die Schamgegend und die Füße, saß eine ganze Weile auf dem Rand der Badewanne und stierte vor sich hin, stand dann auf, rasierte sich mit Hannes’ Nassrasierer, fand etwas anzuziehen, nicht das orange Hemd, ging noch einmal ins
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