Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
dass, obwohl er im Hauptberuf eigentlich Zimmermann war, Hannes’ Augapfel seine Polizeiuniform war. Das bin ich gar nicht, dachte er, wenn er sich montags morgens seinen Gürtel mit den Werkzeugschlaufen umschnallte, nach der Säge griff, unsere Gesetzestreue verfluchte und von finsteren Zeiten mit vielen Verbrechen träumte, in denen er den Werkzeuggürtel wegwerfen und jeden Tag die Uniform überziehen könnte.
Hannes war eine imposantere Erscheinung als die meisten anderen, 193 Zentimeter groß, breite Schultern, muskulös und kein Gramm Fett am Leib, wenn er sich bewegte, dachte man an eine Großkatze. In jeder Schlägerei behielt er die Oberhand, seine Arme schienen aus Stahl, seit früher Jugend trank und vertrug er mehr als wir anderen, was nur natürlich erschien, denn der Mann schien von Riesen und Trollen abzustammen. Die Frauen flogen auf Hannes, er hatte einen durchdringenden Blick und warf damit um sich wie ein Leuchtturm. Für eine Nacht mit ihm würde ich Mann und Kinder im Stich lassen, dachten sie. Zwei bildhübsche Schwestern stellten ihm jahrelang nach, du kannst uns beide haben, sagten sie, mit uns beiden zusammenleben, du schaffst doch auch zwei Frauen, wir sind höchst einfallsreich und meinen damit nicht unsere Kochkünste …, und dann heiratete er Bara; wir konnten uns gar nicht genug wundern, so zierlich war sie mit ihrem hellen Kopf, ein Leib wie ein Blumenstängelchen, sagten die alten Leute über sie. Sie war zum Studieren in die Hauptstadt gegangen, nicht, um alles über empfindliche Pflanzen zu lernen, wie wir annahmen, sondern um Geologie zu studieren, sie wollte alles über Erdbeben, Vulkanausbrüche und die Riesenkräfte der Natur erfahren. Sie war eine fleißige Studentin und wäre eine hervorragende Geologin geworden, doch bei einem Osterball in unserem Gemeindezentrum sah sie einmal mit an, wie sich Hannes in eine Prügelei einmischte. Aktiver Vulkan, dachte sie, und zwei Jahre später kam Jónas zur Welt. Sie hatte gerade den Bachelor gemacht, als er kam, wollte drei Jahre an unserer Schule unterrichten und dann das Studium fortsetzen, mit einem Schwerpunkt auf Vulkanismus, ich wollte mich auf dich spezialisieren, sagte sie manchmal zu Hannes, aber eines Tages stellten wir fest, dass das Licht um ihren Kopf matt geworden war. Der alte Landarzt mit seinen paar lateinischen Brocken vermochte nichts, es war Darmkrebs, die Blüte des Teufels, sie dagegen welkte rasch, verfiel, wurde zu nichts. Hannes hielt sie mit all seinen Leibeskräften, aber gegen den Tod vermag der Mensch nichts, das Licht der Welt erlosch, und Hannes verlor seine Frau, die Mutter seines drei Jahre alten Söhnchens und das Feingliedrigste und Beste, was wir je gesehen haben. Es könnte durchaus noch mehr Gerechtigkeit in der Welt geben.
Nun also waren nur die beiden noch übrig.
Der Junge sah seiner Mutter so ähnlich, dass sich Hannes nicht traute, ihn zu berühren. Mein Junge, sagte er und stopfte die Hände in die Taschen. So vergingen Jahre. Vater und Sohn lebten jeder in seiner Welt, sprachen nicht viel miteinander, aber sahen gern zusammen fern, saßen gemeinsam am Küchentisch, hörten dem Fortsetzungsroman im Radio zu oder dem Regen und blickten hinaus auf den Fjord. Sie wohnten in einem der alten Holzhäuser, die gleich oberhalb des geschwungenen Ufers standen. Aber manchmal, meist an einem Donnerstagabend im Abstand von etwa sechs, sieben Wochen, ließ sich Hannes in seinen Hausherrnsessel fallen und rief seinem Sohn zu: Bring mal den heiligen Hallgrimur her! Dann wusste Jónas, dass wieder einmal vier oder fünf Tage und ebenso viele Nächte sinnlosen Besaufens anbrachen.
Wie oft hatte er nicht seine Hände nach den Gedichten Hallgrimur Peturssons auf dem dunklen, schweren Bücherregal greifen sehen: Psalmen und Gedichte in zwei Bänden, 1887-89, Gedichte und Lieder in der einbändigen Ausgabe von 1945 und die zweibändige Biographie des Dichters von Magnüs Jönsson. Erst ertönt die mächtige Stimme von Hannes, dann recken sich Jönas’ Hände nach dem Regal, seine Erinnerungen sind voll von seinen eigenen Händen. Er wuchs langsam, brauchte länger als andere einen Stuhl, um an die Bücher zu kommen, kleine Hände greifen nach den Buchrücken, dann schleppt er sie zu Hannes hinüber, der mit einer Decke über den Knien in seinem Sessel saß; Schwarzbrot mit Leberwurst, Trockenfisch und eine Flasche auf dem kleinen Tisch daneben. Immer die gleiche Leier in Jönas’ Erinnerung, wie ein
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