Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
einer Schneedecke schliefen, wieder einmal der Strom ausfiel. Trotz seiner nicht auszuhaltenden Schüchternheit sah man Jónas allerdings nie erröten, vielmehr wurde er noch blasser, wenn er in Verlegenheit geriet, und wir fürchteten dann, er könne vollkommen mit dem Tageslicht verschmelzen und verschwinden. Doch zwei Monate nach seinem Eintritt bei der Molkerei sah man Jónas zum ersten Mal rot anlaufen, und zwar ohne ersichtlichen Grund. Einige der Mädchen und auch einige Frauen schlugen den Blick nieder und dachten sich ihr Teil. Der Betriebsleiter war so begeistert, dass er Hannes anrief, und der grillte zum Abendessen Hähnchen, frittierte Pommes, schenkte seinem Sohn ein halbes Glas Bier ein, sich selbst fünfeinhalb und rief: Heute feiern wir! Jónas verstand überhaupt nicht, was los war, süffelte aber sein Bier und bekam einen Schwips. Du verträgst nicht mehr als ein Vogel, sagte Hannes und lachte, da leuchtete Jónas’ Gesicht auf und er begann von den isländischen Watvögeln zu erzählen. Eine geschlagene Stunde ohne Punkt und Komma und mit einem Eifer, wie er ihn noch nie an den Tag gelegt hatte. Hannes hörte sich die genauen, manchmal hochsensiblen Schilderungen erst verblüfft, dann begeistert an und war überzeugt, der Vortrag sei ein Symptom erwachender Triebe, bald würde sein Sohn nun doch zum Mann. Am Tag darauf übertrug der Betriebsleiter Jónas eine neue Aufgabe. Eine Wand war zu streichen, zwar eine, die immer von Warenstapeln zugestellt war, aber der Betriebsleiter war ein kluger Mann und wusste, dass man sich auch um das Verborgene kümmern muss. Er führte den Jungen zu der Wand, drei mal drei Meter, wies auf einen Eimer Farbe und Pinsel, erklärte, wir müssten auch das in Ordnung halten, was man nicht sehe, eine Arbeit für dich, fügte er vorsichtig hinzu, stets auf der Hut wegen der Schüchternheit des Jungen. Was ist mit dem Mopp? Den lass mal da in der Ecke stehen. Soll ich die gesamte Wand streichen? Lass nichts übrig, sagte der Betriebsleiter, wenn nötig, steht im Abstellraum mehr Farbe, der Eimer sollte aber reichen. Er klopfte dem Jungen freundlich auf die Schulter und ging so langsam wie möglich davon, denn schnelle Bewegungen machen Jónas nervös, und er ging in sein Büro, wo er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Kriegt der Junge das hin, fragte jemand, na klar, er wird jetzt erwachsen, pass auf, bald guckt er den Mädchen nach, aber wir sollten ihn nicht stören.
Es war fast Mittag, als der Betriebsleiter wieder nach Jónas sah. Absolut still stand der Junge zwischen seinen Farbeimern und blickte vor sich hin. Der Betriebsleiter starrte lange die Wand an und trat dann endlich zu Jónas, der mit geröteten Wangen und blitzenden Augen dastand. Seitdem ist es keinem mehr eingefallen, irgendetwas vor die Wand zu stapeln. Der Betriebsleiter ließ davor zwei Tische und ein paar Stühle aufstellen, und da sitzen die Mitarbeiter jetzt in den Pausen oder wenn sie mal ein ruhiges Minütchen brauchen, über etwas nachdenken oder einfach zur Besinnung kommen wollen, sie schlürfen ihren Kaffee und betrachten das Gemälde, die rötliche Sonne, die die halbe Wand bedeckt, und ungefähr sechzig Watvögel, die geradewegs aus ihr herausgeflogen zu kommen scheinen, ihre Umrisse sind noch ein wenig ungelenk, und doch wirken die Vögel so ungeheuer lebendig, dass man bei tiefer Stille meint, ihren Flügelschlag in der Wand zu vernehmen.
Zwei
Früher einmal gab es noch so viel Unschuld in der Welt, dass es reichte, die Polizisten im Ort auf Teilzeit anzustellen; damals war es vielleicht noch näher in den Himmel als in die Hölle. Die Fortschrittspartei regierte in den Landkommunen, beherrschte die Genossenschaften, die die Gemeinden zusammen- und die sich bereichernden Raubritter in Schach hielten. Sie nahm uns das Denken ab und tat ihr Bestes, damit immer hübsch alles beim Alten blieb; am besten haben sich noch immer die regieren lassen, die sich nicht bewegen. Mittlerweile steht dieses System vielleicht auf dem Kopf, denn in den letzten Jahren ist so vieles in Bewegung geraten, dass uns der Kopf schwirrt und wir darum nicht mehr denken können, sondern nur noch damit beschäftigt sind, uns festzuklammern, damit man nicht in die Leere hinausgeschleudert wird. Aber ist dir schon aufgefallen, dass der Kern des Menschen oft dem Blick verborgen ist, dass er unter der Oberfläche steckt und vielleicht nie zum Vorschein kommt? In den offiziellen Akten steht jedenfalls nirgends,
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