Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
zerbricht an der Finsternis, die Schatten holen ihn ein, und er hängt sich auf, hinterlässt einen Abschiedsbrief für seinen Sohn und einen zweiten für Guðmundur und Sólrún, in dem er seine Freunde bittet, dafür zu sorgen, dass Jónas eine ganze Stelle als Polizist erhält, »denn ich glaube, es ist der einzige Weg, ihn zu einem Mann zu machen. Es wird eine harte Schule für ihn werden, aber so ist das Leben, und er hat den Mumm, das durchzustehen, unter seiner vermeintlichen Weichlichkeit steckt eine verborgene, ungeahnte Stärke.« Mit dieser Meinung, die nach hoffnungslosem Wunschdenken aussah, stand Hannes sicher ganz allein da. Sólrún sagte auch gleich: Nein, kommt nicht in Frage, und der Landrat war darin ganz einig mit ihr, zögerte aber doch, denn kaum etwas ist stärker als der letzte Wunsch eines verstorbenen Freundes. Was den Ausschlag gab, war Jónas’ überraschender Eifer. Er wollte die Stelle unbedingt, vielleicht war er noch durcheinander, stand nach dem Selbstmord seines Vaters noch unter Schock oder fühlte sich gar schuldig daran, was natürlich völlig abwegig ist, aber die Gedanken der Menschen gehen nicht weniger seltsame Wege als das Schicksal. Jedenfalls führte seine Entschlossenheit dazu, dass er nur wenige Wochen danach die schwarze Uniform anlegte, blass und abgemagert, wie in schwarze Nacht gesteckt. Sólrún ließ die Garage zu einer provisorischen Polizeiwache umbauen, damit er zumindest unter Aufsicht wäre, ein Schreibtisch und ein Aktenschrank, ein Computer und ein paar Pflanzen tauchten auf, die Garagenwände wurden in pastelligen Farben gestrichen, und Sólrún hängte einige Vogelbilder auf. Doch Hannes’ ebenso entschiedener wie unvernünftiger und grimmiger Wunsch sollte noch Folgen haben, nach dem Motto: Ein Mann hängt sich auf, und die Welt verändert sich.
Ein ganzes Jahr lang hat Jónas den Job allein versehen. Die meisten von uns versuchten ihm die Tage erträglich zu machen, aber für die Nächte übernahmen wir keine Verantwortung und würden es auch nie tun, die Nacht ist verantwortungslos, wir wachsen um einige Zentimeter oder schrumpfen um vierzehn, braune Augen werden gelb, die Maus fällt die Katze an, der Hund wird zur Bekassine, und wir küssen Lippen, die wir niemals küssen sollten. Sólrún empfahl Jónas, im Meer zu schwimmen, das kräftigt dich, es härtet dich ab, gibt dir Selbstbewusstsein, es steigert dein Ansehen bei den Rabauken, von denen es nicht wenige gibt, glaub mir, vielleicht nicht am Tag, aber nachts kommt vieles aus den Höhlen, was wir am hellen Tag nicht an uns kennen wollen. Er aber grinste bloß, und es war vielleicht die einzige Reaktion, die ihm einfiel, immer noch gehemmt von Schüchternheit und Unsicherheit gegenüber seiner ehemaligen Schulrektorin. Sólrún ging auf die vierzig zu, hatte zwei Kinder und war groß, größer als Jónas, dazu reichlich langes, flammend rotes Haar, das sie immer zu einem Knoten aufsteckte, der wie eine geballte Faust aussah. Sie hat an der Universität Philosophie studiert und ist so gebildet, dass wir uns manchmal gar nicht mit ihr zu reden trauen. Zudem badet sie zweimal die Woche im Meer, bei jedem Wetter. Ihr Körperbau ist kompakt und fest wie bei einem Seehund oder einer Meerjungfrau, und genauso gleitet sie durchs Wasser, das manchmal kalt ist wie der Tod, die Haut zwischen ihren Zehen erinnert an Schwimmhäute. Sie schwimmt weit hinaus, wird zu einer aufflackernden Lohe zwischen den Wellen, und ihr Mann mag gar nicht hinsehen, aber wir. Wir beobachten sie im Feldstecher, von dem Moment, wo sie aus dem Auto steigt und den Bademantel abstreift. Dann geht sie in ihrem himmelblauen Badeanzug los, hebt langsam die Arme, löst den Knoten, das Haar fällt herab, und die Männerwelt stöhnt auf. Manchmal taucht sie bis auf den Meeresgrund, wo es eine ganz andere Welt gibt, es ist dort wie am Grund der Träume, als würde man die Welt mit den Augen der Fische und Muscheln betrachten. Aber Jónas folgt ihrem Rat nicht, ist wohl auch besser so, die erste Welle hätte ihn ersäuft, die Wassertemperatur gelähmt, und der Meeresboden hätte ihn nie wieder hergegeben. Dafür tritt er fünf Tage die Woche pünktlich um acht zum Dienst an, knipst die Schreibtischlampe an, liest in seinen Naturkundebüchern, geht sein Manuskript über Watvögel durch, wieder und wieder korrigiert und ändert er darin, fügt hinzu, tippt Kapitel neu mit der Schreibmaschine, denn die Natur ist in ständiger Veränderung
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