Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Filmstreifen, der in seinem Kopf abläuft, die Arme werden länger, er braucht keinen Stuhl mehr, die Bücher aber bleiben immer gleich schwer, der Weg durchs Wohnzimmer wird nicht kürzer, in der Ecke hockt Hannes und wird älter. Viele Frauen hätten gern Jönas’ Hände, die an Schmetterlingsflügel erinnern, ganz durchscheinend sind sie. Der Junge war so zartgliedrig wie Bara, aber ihm fehlte ihre Resolutheit und ihr helles, positives Gemüt, sie war zierlich, aber stark, er dagegen ist so zerbrechlich, dass wir fürchten mussten, er würde die Last des Lebens nicht tragen können. Aber das Leben ist schon eigenartig. Bei einigen scheint ein innerer Schmerz in ihr Dasein eingewoben zu sein, und auf die Stärke in ihren Armen kommt es dabei überhaupt nicht an, wie viel sie auch trainieren, Gewichte stemmen und 15 Kilometer laufen mögen, denn das Dunkel ringt man nicht zu Boden, den Schatten läuft man nicht davon, der grauschwarzen Depression, die nichts verschont, entkommt man nicht. Eines Abends sagt Hannes zu seinem Sohn: Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen und nichts würde mich glücklicher machen, als wenn du nach meinem Tod meine Uniform weitertragen und zum Mann werden würdest, dann hätte ich nicht umsonst gelebt, es würde meine Qualen lindern, wo immer der Herr des Himmels und der Engel sie mich ausbaden lassen wird.
Das war an einem Abend im November, vier oder fünf Tage, nachdem Jónas seinem Vater den heiligen Hallgrimur geholt hatte, in der Küche standen zwei geleerte Flaschen Wodka und ungefähr drei Dutzend Bierdosen, Hannes hatte wie gewöhnlich wenig geschlafen, Megas gehört, Cat Stevens, Elvis Presley, seinem Sohn mit kräftigen Worten Predigten gehalten, Jónas arbeitete noch in der Molkerei, das war in Ordnung, er hielt sich am Besenstiel fest, belebte die Umgebung manchmal mit Vogelbildern, hatte reichlich Zeit, nachzudenken, blieb nach der Arbeit zuhause in seinem Zimmer, las Naturbücher über Vögel, zeichnete und schloss sich häufig ein, außer wenn sein Vater trank, dann blieben die Türen weit offen und Hannes’ dunkles Gemurmel füllte das Zimmer.
Nichts würde mich glücklicher machen, wiederholte Hannes, und da ging es schon auf Mitternacht zu. Jónas putzte sich die Zähne, sehr sorgfältig wie immer, ging aufs Klo, wusch sich und ging anschließend noch einmal ins Wohnzimmer, um Gute Nacht zu sagen. Hannes blickte auf, hob den Kopf, seinen massigen Schädel, Gute Nacht, Sohn, immer und ewig Gute Nacht, lass dich nicht von den Schatten einfangen. Nein, Papa. Jónas ging in sein Zimmer, schlief über dem Murmeln aus dem Wohnzimmer ein, in seinem roten Schlafanzug. Früh wachte er am nächsten Morgen auf, im Zimmer war es noch fast dunkel, er sah auf die Uhr, sieben, noch zwei Stunden, bis er auf der Arbeit sein musste, Zeit genug, um noch ein wenig in der Lebensgeschichte eines amerikanischen Zoologen zu lesen, der seit dreißig Jahren jeweils einen Monat im Jahr in den erlesensten Gegenden auf Wanderschaft ging, in den Wäldern der USA, in den kanadischen Rocky Mountains, in den unbesiedelten Weiten Alaskas, am Amazonas, in Indien, auf Madagaskar, nur einmal variierte er diese feste Tradition und segelte mit einer kleinen Jacht zu den Inseln des Stillen Ozeans; genau in diesem Teil war Jónas angekommen. »Manchmal ist das Meer so blau«, schrieb der Zoologe, »dass ich überzeugt bin, tot zu sein, und mein Boot durchschneidet mit dem Bug den Himmel.« Jónas lächelte vor Entzücken, streckte sich zum Lichtschalter, knipste die Lampe an und sah, dass jemand in der Nacht die Zimmertür geschlossen und unterhalb der Klinke einen großen Umschlag angeklebt hatte. Er stand auf und holte das Couvert. »An meinen Sohn«, stand darauf. Jónas setzte sich auf die Bettkante, sein Herz klopfte, er riss den Umschlag auf und las:
Lieber Sohn,
tu mir den Gefallen und komm nicht ins Wohnzimmer. Wenn du auch nur ein wenig Achtung vor mir hast oder irgendwann hattest, dann respektierst du diesen letzten Willen von mir. Ich habe alles versucht, aber jetzt habe ich vor den Schatten in meinem Hirn resigniert. Für mich ist alle Schönheit der Welt dahin.
Der schöne Wald ist welk geworden,
gefallne Pracht, das Maß der Sorgen
übervoll, und arm das Morgen,
dahin ist weltlicher Freuden Fang.
Ich hörte schönen Vogelsang.
Schwindet der Tag, beginnt das Morden,
Tiere und Vögel bangen,
Mein Sinn bleibt eng befangen.
Die Schatten haben über mich triumphiert. Ich habe
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