Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
bei Arnbjörn dem Dorfarzt zu machen. Kjartan stößt Davið, der verwirrt aus seinen Tagträumen aufschrickt, mit dem Ellbogen und sagt: Fertig mit Denken. Davið gähnt, gießt sich Kaffee ein, versucht, an die Verantwortung zu denken, die auf sie zukommt, aber das Einzige, was in seinem Kopf Platz hat, ist ein bestimmtes Klaviermotiv, das allein den Kuss beschreibt, den ihm eine Frau aus dem Ort vor gut zwei Wochen auf die Lippen gedrückt hat, die Wärme, die von ihrer Zunge ausging. Die Frau war verheiratet, dreißig Jahre alt und hatte zwei Kinder, der Kuss schmeckte nach Tabak und Wodka, und ihre Brüste waren so schwer. Davið springt auf die Füße, bevor die Erinnerung etwas anderes an ihm aufrichtet. An die Arbeit!, ruft er und klatscht in die Hände. Kjartan seufzt und bleibt mit seinen 110 Kilo sitzen, du bist wahrlich ein Kind der Lüfte, sagt er, und deshalb bist du so leicht und beweglich, ich hingegen komme aus der Erde und habe ein paar Gramm Hölle in mir, darum bin ich so unfromm schwer. Gib mir deine Hand. Außerdem hast du schöne Augen, dachte er im Stillen, denn gerade zog eine Wolke vor dem Mond ab, helles Licht fiel durch das große Fenster über der Tür auf Daviðs Gesicht, dass seine braunen Augen wie dunkle Glut aufleuchteten. Kjartan seufzte. Ja, sagte Davið und stöhnte ebenfalls, das wird verdammt noch mal nicht leicht für uns, den ganzen Ramschladen hier zusammenzuhalten. Kjartan gab keine Antwort, sondern erhob sich langsam und schwerfällig, noch zusätzlich beschwert durch eine unerwartete Traurigkeit über das Leben, über sich selbst, über seine Frau und darüber, welch starkes Gefühl Daviðs aufleuchtende Augen in ihm ausgelöst hatten. Seite an Seite tappten sie in die große Öffnung des Lagers.
Zwei
Du kennst sicher solche Phänomene: du nimmst irgendwo in einem menschenleeren Haus eine Bewegung wahr, es knarrt auf einem Dachboden, auf demsich niemand aufhält, in einem leeren Zimmer spielt ein Klavier. So etwas kann einem ganz schön an die Nieren gehen, uns bricht bei den nichtigsten Anlässen der Schweiß aus, es kommen dubiose Geschichten auf, die einem den Schlaf rauben und die Dunkelheit mit Bedrohlichem bevölkern. Dennoch enthalten solche Geschichten in ihrem Kern etwas Positives, nämlich die Überzeugung, dass es noch eine Welt jenseits der unseren gibt. Wer an so etwas glaubt, ist letztlich besser für die Einsamkeit des Menschen gerüstet, der lernt die Abgründe der Ungewissheit erst später kennen, es ist möglicherweise ein Segen. Kjartan ist ein bodenständiger Mensch, und er weiß, dass sich in den allermeisten Fällen leicht natürliche, wenn nicht gar physikalische Erklärungen für angebliche Geistererscheinungen finden lassen: das Brausen des Windes, Luftspiegelungen in der Atmosphäre, Sehnervstörungen. Als Bauer hatte Kjartan oft genug in pechfinsterem Winterdunkel im Stall zu tun, der Sturm heulte, es ächzte im Wellblech, perfekte Bedingungen für Gespenster, aber es passierte nie etwas, wahrscheinlich weil Kjartan ein vernünftiger Mensch ist. Und auch Davið ist geistig nicht zurückgeblieben, lauter gute Noten im Gymnasium und in den Isländischseminaren, die er an der Universität besucht hat, aber er ist so ein nervöser Typ, kaut an den Nägeln, wippt andauernd mit dem rechten Bein, wenn er sitzt, lebt mehr oder weniger in seinen Traumgespinsten und lässt im ganzen Haus das Licht brennen, sobald die Winternächte anbrechen und das dunkle Weltall direkt über dem Ort zu hängen scheint, mit seinen saugenden Atemzügen und seiner unermesslichen Dunkelheit. Jetzt aber gehen sie gerade vom Pausentisch zur Lagerhalle hinüber, ein Weg von vielleicht zwanzig Metern; sie ziehen die große Schiebetür auf, schalten die Beleuchtung ein, und vor ihnen liegt das Warenlager. Endlose Bretterstapel, ein Hauptgang für den Gabelstapler, davon abzweigend ein paar schmalere Gänge und über allem Reihen nackter Glühbirnen an langen Kabelsträngen in acht Metern Höhe. Kjartan wirft einen Blick auf die Liste der Bestellungen, die er mitgenommen hat, und sie fangen an zu arbeiten. Alles ist wie immer, bis auf den Unterschied, dass _Þórgrímur nicht mehr da ist, und so vergehen einige Tage.
Anfangs geschieht auch nichts, gar nichts, außer dass beide meinen, da sei etwas, aber keiner von ihnen bringt es dem anderen gegenüber zur Sprache. Beide empfinden eine unsichtbare Anwesenheit, da ist etwas, das an die Nerven geht, den Atem flacher gehen lässt.
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