Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
Vom Netzwerk:
ist kein Wort herauszuholen, aber er trinkt vier Tassen schwarzen Kaffees, wo er doch sonst höchstens eine am Tag trinkt, und schließlich muss Sólrún zur Arbeit. Im Stillen atmet t‘örgrimur erleichtert, aber auch ein wenig bedauernd auf; in Sólrúns Gegenwart fühlt er sich immer so befangen, schüchtern und unsicher: diese Intelligenz, dieser himmelblaue Badeanzug, dieses lange rote Haar! Dann verabschiedet sich auch der Landrat, das Büro ruft. Männer, sagt er, schrecklicher Papierkrieg, und damit bleiben sie allein zurück. Jaja, sagt Þórgrímur vorsichtig, jetzt sind wir also Kollegen. Von nun an halten wir zwei zusammen wie Pech und Schwefel. Beide erheben sich und geben sich die Hand, der Troll und der Elf, dann rollte der Streifenwagen zum Ort hinaus, t‘örgrimur am Lenkrad, Jónas zitterte auf dem Beifahrersitz, vom Kaffee oder vor Seligkeit.

Die Zeit vergeht und strömt dabei durch uns hindurch, deshalb altern wir. Nach hundert Jahren liegen wir in der Erde, nichts als ein Haufen Knochen und vielleicht ein Titanschräubchen, das uns ein Zahnarzt in den Oberkiefer gedreht hat, um ein Implantat zu befestigen. Der Mensch ist nicht so haltbar wie Titan, und seine Geschichte könnte auch folgendermaßen lauten: Etwas, das einem auf dem Herzen liegt, etwas, das in den Knochen steckt, im Blut, und dann eine Handbewegung an einem Oktoberabend. Jónas denkt wahrscheinlich nicht viel über das Dasein nach, und das ist womöglich der Grund dafür, dass er nicht älter zu werden scheint, seine Haut bleibt weich und glatt, und es macht Spaß, die beiden zusammen zu sehen, Jónas und Pörgrimur. Einige Monate, nachdem Jónas auf dem Beifahrersitz gezittert hatte, verkaufte er sein Vaterhaus und zog bei Pörgrimur ein, da ist er in sicherer Obhut, im Frühjahr und im Sommer verlässt er den Ort in aller Frühe, streift mit Fernglas, Stift und Notizbuch durch Feld und Flur, um Vögel zu beobachten; Bekassine und Uferschnepfe mag er ganz besonders, Möwen weniger, die über den Brutkolonien der Watvögel schweben und heiser vom Tod kreischen. Jónas ist ruhig und ausgeglichen, als ginge ihn alles, was uns umtreibt, nichts an, das Tempo, die Hetze, der Wunsch nach dem größeren Fernseher, dem neuesten Handy; er denkt bloß über den Schwung in der Form der Vogelschwingen nach. Was müssen wir tun, um dahin zu kommen?
    Manchen kommt es verdächtig vor, dass die beiden zusammenwohnen, zwei Kerle, aber wahrscheinlich liegt es nur daran, dass wir so leicht alles in Verbindung mit Sex sehen. Du weißt, wie die Zeiten sind, es erscheint kaum eine Zeitschrift, die nicht von Sex handelt: Affären, Sexreports, Erhebungen über die durchschnittliche Länge des Penis, Umfragen nach Sexspielzeug. Irgendwo haben wir einmal gelesen, Orgien und sexuelle Ausschweifungen hätten zum Untergang Roms beigetragen, aber besteht der Mensch überhaupt aus anderem als Fleisch und Blut und vereinzelten Titanschrauben?
    Einst war die Religion das Opium, sie war das Mittel zum Zweck und die Hoffnung, dann kam die Wissenschaft, der Traum von einer besseren Welt, kürzere Entfernungen zwischen den Menschen, so ändert sich alles. Die Tage vergehen, ganze Zeitalter, und in unserer Epoche ist der Glaube kaum mehr als ein sonntäglicher Kirchgang, die Wissenschaft gehört den Wissenschaftlern, der Traum von der besseren Welt schlummert auf dem neuen Sofa. Bequemlichkeit umgibt uns so auf allen Seiten, dass kaum noch der Kopf herausschaut, wir dösen ein, träumen, und unsere Träume verschmelzen mit den bunten Urlaubsprospekten der Reisebüros, schleichen ums Fernsehprogramm, werden vom Internet entwickelt. Es ist behauptet worden, die Helden eines Zeitalters spiegelten ihre Gesellschaft wider, auf ihre Weise seien sie eine Beschreibung von deren innerem Zustand. Vor einem halben Jahrhundert sahen wir vielleicht die Größe des menschlichen Ingeniums in den Astronauten verkörpert, sie standen für die Fähigkeiten von Wissenschaft und Forschung, für neue Welten, auch für Wagemut, womit wir nicht sagen wollen, dies alles seien Kennzeichen jener Epoche gewesen, nein, beileibe nicht, Symbole sind immer grobe Vereinfachungen, und dennoch: Die Helden eines Zeitalters spiegeln auf ihre Weise den inneren Zustand einer Gesellschaft wider, unser Denken, unsere Träume und Hoffnungen, ein Held ist ein Ziel, ein Leuchtturm, an dem man sich orientiert, ein aufbauender Trost in schwieriger Lage; der Mensch braucht Helden, das gehört zu seinem Wesen

Weitere Kostenlose Bücher