Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
wie flink deine Zunge war, ich träume noch immer von ihr, darf ich dich jetzt küssen? Ach, Sigriður, komm, wir pfeifen auf alles, auf die ganze Welt und die anderen und küssen uns wie früher das war noch ein Leben! Heute bin ich verheiratet, habe Kinder, bin glücklich, ja, aber gerade jetzt erst spüre ich ganz deutlich, dass ich nie aufgehört habe, dich zu lieben, Sigriður. Komm mit mir hinaus in die Nacht!
Aber die Männer können machen und einsetzen, was sie wollen, alte Erinnerungen, den verantwortungslosen Leichtsinn der Nacht, heißes Verlangen – alles prallt gleichermaßen an ihr ab. Sigriður sieht die Männer nur an, und schon verdrücken sie sich in ihr Auto, ziehen die Wodkapulle unter dem Sitz hervor, kippen noch einen und denken, oh, was für ein Leben! Bis sie hastig die Tür aufstoßen, sich übergeben und dann wegsacken.
Sigriður schließt die Ladentür, geht zur Theke und mustert die beiden Kollegen, die zusammenzucken. Kjartans Schläfrigkeit ist augenblicklich verflogen, Davið kehrt schlagartig aus dem Reich der Träume zurück, er ist fast dreißig Jahre jünger als Sigriður, die in seinen Augen eine ältere Frau ist, ein unbarmherziger Sklaventreiber, und er versteht nicht, wie die alten Säcke mit träumerischer Süße oder dem heißen Verlangen der Triebe von ihr reden können. Ich sehe, ihr seid anderweitig beschäftigt, sagt Sigriður, hebt die Klappe in der Theke hoch und tritt zu ihnen. Wir sind gerade bei der Tagesplanung, Sigriður, erklärt Kjartan mit etwas belegter Stimme, er dreht einen Zuckerwürfel zwischen den Fingern und möchte ihn ums Verrecken gern in den Mund stecken. Sigriður blickt von einem zum anderen und kneift dabei die Augen zusammen; den beiden ist mulmig. Dann gibt sie bekannt, dass Þórgrímur gekündigt habe, wovon sie zweifellos längst Wind bekommen hätten, und dass er am heutigen Tag seinen neuen Posten als Polizist angetreten habe. Das sei ein wenig überstürzt gekommen, und deshalb werde es einige Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis der neue Mann, dem sie Þórgrímurs Stelle zugedacht habe, diese auch antreten könne. Er sei weit weg, weshalb es schwierig sei, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Daher sollten sich Kjartan und Davið einstweilen die Verantwortung teilen und einmal zeigen, was in ihnen stecke, aus welchem Holz sie geschnitzt seien und dass man sich auf sie verlassen könne. Kjartan legt das Stück Zucker weg, wölbt die Brust und sagt im tiefsten Tonfall, der ihm zur Verfügung steht: Du kannst dich auf uns verlassen. Sigriður zeigt den Anflug eines Lächelns, schwer zu sagen, ob es freundlich gemeint oder spöttisch ist, nickt, macht auf dem Absatz kehrt und verlässt das Geschäft, in dem es sofort um drei Grad wärmer wird. Die beiden Kollegen sehen noch eine Weile die Tür an, dann greift Kjartan nach dem Zucker und steckt sich den Würfel rasch in den Mund. Anschließend tritt er an die Theke, schließt die Klappe, lehnt sich darauf und sagt: Jaja. Auch Davið lehnt sich gegen die Theke und sagt ebenfalls Jaja. Und da stehen sie also, die beiden, Kjartan, ehemals Bauer und vor zwei Jahren in den Ort gezogen, ist etwas über mittelgroß, aber mittlerweile so füllig, dass er kleiner wirkt, und Davið, der Sohn des Astronomen selbstverständlich, sichtlich kleiner als Kjartan und strichdünn, aber inzwischen mit einem kleinen Bäuchlein ausgestattet, das aussieht, als habe er aus Versehen einen Bowler verschluckt. Manchmal steht er in seinem kleinen Holzhäuschen vor dem Spiegel, streicht sich über das Kugelbäuchlein und verwünscht Kjartans gehaltvolle Pausenbrote. Sie lehnen gemeinsam an der Theke, bis Kjartan meint, jetzt müssen wir erst mal überlegen, und damit setzen sie sich wieder an den Tisch. Davið wird schläfrig, denn Dösen ist was Schönes, man versenkt sich in sein privates Universum und zieht dicke Gardinen vor. Kjartan klappt das Sandwich auf und futtert nur den Schinken, dann legt er ein süßes Hefeteilchen an dessen Stelle, klappt die Toastscheiben wieder zusammen und beißt herzhaft hinein. Auch Essen ist etwas Schönes, der Körper dankt es einem, die Welt erscheint nicht mehr so dornig, und Kjartan denkt schöne Gedanken. Dann ist das Sandwich verputzt, und ihm fallen die Schmerzen wieder ein, die er manchmal unter dem Brustbein in der Nähe des Herzens spürt, ein schwacher Schmerz, der kommt und geht, sicher bloß ein Schmerz, der zum Leben dazugehört, aber besser ist es, zur Sicherheit einen Termin
Weitere Kostenlose Bücher