Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Hand in Hand, es gebe nur eine dünne Scheidewand zwischen ihnen, und dass wir deswegen manchmal Schatten aus dem Reich des Todes sähen. Wir sprechen vom Tod und denken an Geister und Gespenster, denn einstmals lag da, wo heute die Lagerhalle steht,ein Bauernhof, auf dem sich schreckliche Dinge abspielten. Der Bauer ging für die Zeit des Fischfangs hinaus nach Snæfellsnes, kam eines Nachts zurück und fand seine Frau in der Umarmung eines anderen, eines fremden, schwarzhaarigen, unerträglich gutaussehenden Mannes. Der Bauer, ein aufbrausender, jähzorniger Mensch, soll nach einem Messer gegriffen und dem Fremden die Kehle durchgeschnitten haben, dann ging er auf seine Frau los, stieß ihr das Messer ins Herz, zündete das Haus an, und alles verbrannte, er selbst, die beiden Leichen, drei Kinder, zwei Hunde und Dutzende von Mäusen. Nur langsam wuchs Gras über die Ruinen, auf denen wie ein Alptraum Unglück und ein Fluch zu liegen schienen, manche sahen dort Schemen herumgeistern, und niemand wagte es, sich in der Umgebung niederzulassen. Erst bald hundertfünzig Jahre später wurde Lagerinn über den Hausresten errichtet, die an seiner nordöstlichen Ecke lagen. Da war auch eine andere Zeit angebrochen, elektrischer Strom und längere Schulbildung hatten das Dunkel bezwungen, und Geschichten sind doch bloß Geschichten, Zeitvertreib, manchmal rühren sie uns an, ja, gewiss, sie bringen uns dazu, die Frisur, unseren Gang, den Wohnsitz zu ändern, aber keine Geschichte kann die Naturgesetze von Leben und Tod beeinflussen, sie ändern nicht den Lauf der Sterne am Himmel, und keine Legende öffnet das Erdreich und lässt hundertfünfzig Jahre alte Düsternis, Geister und ein schreckliches Unglück wieder heraufsteigen.
Oder? Die Nacht verging, und ein dunkler Morgen brach an.
Davið kam zu früh zur Arbeit. Sie hatten am Vortag vergessen, die Außenbeleuchtung einzuschalten. Er zog die Schlüssel aus der Tasche und stopfte sie zurück. Ich warte auf Kjartan, dachte er und sah auf die Uhr. Halb neun. Eigentlich sollten sie jetzt schon zu zweit sein, und irgendwer musste in diesem Kaff doch inzwischen auf den Beinen sein, aber außer Elisabet, die er auf dem Weg zu ihrem täglichen Spaziergang hatte vorbeifahren sehen, war niemand zu sehen, nur Dunkelheit und auf ihrem Grund die Außenlaternen der Häuser. Davið pfiff leise vor sich hin, erst einfach so aufs Geratewohl, doch mündete sein Flöten bald in bekannte Melodien wie »Der erste Kuss« von den Hljomar, natürlich. Davið dachte, ich bin jetzt vierundzwanzig und schon geküsst worden. Die Melodie verklang, er lehnte sich an die Hausecke und blickte über den Ort.
Vor sechzehn Tagen hatte Kjartans und Daviðs Band auf dem Silvesterball gespielt. Eine Gruppe aus Reykjavik hatte nur zwei Tage vor der längst angekündigten Party abgesagt, es gab einen Aufstand und notgedrungen engagierte man die Guten Söhne, benannt nach einem Album von Nick Cave, The Good Son. Die Band hat fünf Mitglieder, die sich zwei-, dreimal im Monat in einer alten Scheune außerhalb des Orts treffen und dann drei Stunden lang wie die Besessenen loslegen. Einer, um seinen Stress abzureagieren, ein anderer, um die Enttäuschungen des Lebens zu vergessen, der Dritte auf der Flucht vor seinen Erinnerungen, und die beiden Übrigen einfach nur aus Lust am Musizieren; nie wäre es ihnen eingefallen, mal auf einem Fest zu spielen, dazu braucht man ein Programm, Planung, Organisation und ein breites Repertoire, aber ihnen blieb keine Wahl. Der große Abend kam, und sie zitterten wie Espenlaub. Davið am Piano, Kjartan Gitarre und die anderen, Asi am Schlagzeug, Höröur Gitarre oder Trompete, wenn er den Blues bekam, und schließlich noch Ingvi oder Ingvar am Bass. Aus irgendeinem Grund können wir uns nicht merken, wie er richtig heißt, nennen wir ihn also Ingvar. Aber es wurde voll und ganz Daviðs Abend, er erlebte seinen Durchbruch, mit seinem Anschlag hielt er die ganze Band zusammen, er sang mit seiner jungenhaften Stimme, die ein dunkles Timbre bekam, langsame Stücke, das dunkle Haar fiel ihm in die Stirn, und er war doppelt so gut wie die anderen zusammengenommen, seine Schüchternheit wie weggeblasen, und er trank so gut wie nichts, ganz im Gegensatz zu Kjartan, der um Mitternacht schon eine halbe Flasche Whisky intus hatte, und da waren noch drei Stunden zu spielen. Der Whisky verwandelte ihn in einen verhangenen Regentag. Sie lehnten ihn gegen eine Wand, damit er aufrecht stehen
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