Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
sollten die Helden unserer Zeit etwa Promis, Innenarchitekten und Fernsehköche sein?
Die Zeit vergeht, wir leben und wir sterben. Doch was ist das Leben? Das Leben ist Jónas, der über den Schwung in der Form der Vogelschwingen nachdenkt, Jónas, der über Pörgrimurs tiefen Atemzügen einschläft, ganz recht, aber das ist noch lange nicht alles. Und wie groß ist der Abstand zwischen Leben und Tod, gibt es da überhaupt einen Abstand, und wenn ja, was bedeutet das dann? Messen wir ihn in Kilometern oder in Gedanken, und gibt es welche, die es hinüber schaffen – und auch wieder zurück?
Sollen wir etwa zugeben, dass wir Idioten sind?
Zwielichtige und kalte Morgenluft strömte herein, als sich die Türen zum Lagerinn öffneten, Sigriður trat an einem Januarmorgen ein und zog die Tür wieder hinter sich zu. Kjartan und Davið saßen noch verschlafen am Kaffeetisch, Davið versuchte, sich seine nächtlichen Träume in Erinnerung zu rufen, Kjartan zerkrümelte Zuckerwürfel, um sich wach zu halten. Zu jener Zeit nannte man den kleinen Supermarkt der Genossenschaft auch das Matriarchat, weil im Obergeschoss die mütterliche Fürsorge von Asthildur waltete, der Sekretärin, die Kaffee kochte und darauf achtete, dass Björgvin und später Finnur nicht unnötig belästigt wurden, und die aus eigener Machtfülle auch schon einmal eine Besprechung absagte, wenn es ihrer Meinung nach zu viel wurde. Wer da oben etwas erreichen wollte, musste sich erst einmal ihr Wohlwollen erwerben. Das Erdgeschoss aber, der Laden und die zugehörige Tankstelle, befand sich in Sigriðurs eisernem Griff. Als sie an jenem Januarmorgen Ende der neunziger Jahre Lagerinn betrat, war sie gerade fünfzig geworden. Aus den Lautsprechern des Radios tönte die britische Band Massive Attack, und Davið trommelte den Takt.
Früher, als Sigriður noch jung und die Welt schwarzweiß war, liefen ihr die jungen Männer nach. Einigen von ihnen hat sie übel mitgespielt, unvergessliche Momente für sie, aber eingestürzte Luftschlösser in den Herzen der Männer. Mit achtzehn wurde sie Miss Vesturland, war groß und schlank mit langem blondem Haar, wenn sie es schüttelte, änderten die Berge ihr Aussehen. Dann fing sie als Verkäuferin im Genossenschaftsladen an. Wir kauften Milch, Kekse und Kartoffeln und gafften ihr Haar an, ihr schmales Gesicht, aber dann heiratete sie einen Bauern in der Nähe des Orts, Guðmundur, der auch oft Guðmundur-ich-lauf-schon genannt wurde.
Guðmundur hielt den Bezirksrekord im 400-, 800- und 1500-Meter-Lauf und ging stets zu Fuß auf den Schafabtrieb, trabte ausdauernder als die meisten Pferde. Sobald jemand auf ein Schaf hoch oben in einem Hang aufmerksam machte, sagte Guðmundur mit schöner Regelmäßigkeit: Ich lauf schon, und daher hatte er seinen Spitznamen. Ein sehr tüchtiger Mann, aber Sigriðurs Näschen war so klein, ihre Hände waren so hell und ihre Schultern so schmal, dass wir zeitweilig dachten, sie sei zu zierlich für ein derart hartes Leben. Aber wie so oft hatten wir keine Ahnung, blickten überhaupt nichts und begriffen noch weniger: hinter den hübschen Augen, die manchen unruhige Träume bescherten, steckte ein eiserner Wille, eine unbeugsame Entschlossenheit. Sigriður arbeitete sich schnell nach oben, hatte nach wenigen Jahren das gesamte Erdgeschoss unter sich, und selbst der Filialleiter hatte sich reichlich oft nach ihr zu richten. Es ist lange her, seit sie uns mit ihren achtzehn Jahren um den Verstand gebracht hat, als sie ihr Lächeln um sich streute wie Goldstaub, aber ihr Haar ist noch immer so verteufelt hell, ihr Körper noch so biegsam und elastisch, dass er an eine Antilope denken lässt, und manchmal scheint er von einer verborgenen oder schwer zu deutenden Spannung erfasst zu sein, die darauf drängt, irgendwie Auslauf zu finden. Aber Sigriður gibt nie jemandem eine Chance, obwohl auf unseren Bällen nicht selten Männer nach einer halben Flasche Wodka Annäherungsversuche unternehmen, sie wollten ihr nur endlich einmal sagen, wie gut sie sich gehalten habe, viel besser als alle anderen Gleichaltrigen, ja, sogar viel besser als viele Jüngere. Einer vertraute ihr an, er werde in ihrer Gegenwart immer ganz kribbelig, ein Zweiter fragt, ob sie denn nie an ihn denke, der Dritte will alter Zeiten gedenken, als man sich an Häuserecken geküsst habe. Weißt du noch, Sigriður, wir haben die ganze Nacht rumgeknutscht, verdammt, geküsst und geküsst ohne Ende, ich werde nie vergessen,
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