Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
stand auf der zum Parkplatz weisenden Wand, und darunter hatte irgendein jugendlicher Lümmel mit roten, fröhlichen Buchstaben gesprüht: Es lebe der Pimmel! Kristin trat ein und stellte sich wartend vor die runde Rezeption, unter deren Glasplatte Kraftfutter ausgestellt war, Energydrinks im Kühlschrank, astrologische Ratgeber auf einem Bücherregal und darüber ein DIN-A3-Anschlag:
Valli liest die Zukunft aus Tarotkarten.
1-Monats-Vorhersage 6000 Kronen, dreimonatige Vorhersage 10 000 kr., Jahresprognose 14 000. Preis für die Vorhersage des ganzen Lebens auf Anfrage (gestaffelt nach Alter und Gesundheitszustand).
Zur Beachtung: Langfristige Vorhersagen sind nicht von gleicher Exaktheit.
Der Übungssaal liegt gleich hinter der Theke, über der Tür das Motto des Hauses: »Der Körper ist dein Heiligtum«, und darunter hat Valli in kleinerer Schrift neuerdings noch ein weiteres aufgehängt: »Denk daran, wenn es deinem Körper gut geht, geht es dir gut!«
Kristin gab das Warten auf und betrat zögerlich den Übungsraum. An allen Wänden rundum zwei Meter hohe Spiegel, die den Raum viel größer wirken lassen, man weiß kaum, wie viele Personen sich wirklich darin aufhalten, wer echt ist und wer nur ein Spiegelbild, dazu laute, rhythmisch stampfende Musik aus dem Fernseher, die junge Sängerin blickte nachdenklich und mit einem Hauch von Traurigkeit direkt in die Kamera, ihre Brüste waren fast komplett sichtbar, jung und fest sahen sie aus, manchmal tauchten hinter ihr zwei Tänzerinnen auf, in hautengen Tops und rosa Stringtangas, von deren Brüsten fast genauso viel zu sehen war. Ja, wir leben schon in einer Zeit der Enthüllungen. Kristin ließ den Blick vom Bildschirm und sah sich nach Valli um. Früher einmal war Valli ein Mensch wie du und ich, er arbeitete bei der Stromversorgung, seine Frau in der Bank, die vier Kinder wuchsen heran, ein ganz normales Leben, aber dann hat etwas klick gemacht, und Valli sagt seitdem, er habe ein Licht gesehen. Kein Wunder, sagt jemand zu ihm, du bist ja auch Elektriker. Aber natürlich meinte Valli kein elektrisches Licht, sondern eins, das das Leben verändert. Er eröffnete das erste Fitnessstudio im Ort, anfangs mietete er bloß einen Keller, der nach Feierabend geöffnet war, bloß so eine Art Hobby. Aber der Geist der Zeit arbeitete für Valli, Dinge änderten sich, die Gesundheitswelle schwappte durch die westliche Welt. Zeitungsartikel und Interviews in Illustrierten proklamierten, dass es den Menschen besser gehe, sobald sie körperlich in Form kämen, überzeugende Schlagzeilen wie »Ein sorgenfreieres Leben«, »Ich bin glücklich«, »Bodybuilding hat mein Leben verändert« machten Eindruck auf uns, und obendrein bekam Valli einen üppigen Zuschuss vom Staat, um das weiße Haus zu kaufen, das leer stand, seit der alte Landwirtschaftsberater über seiner Milchgrütze mit Backpflaumen einen Herzinfarkt bekommen hatte und seine Witwe ins Altersheim gezogen war, wo sie die Beziehung zu einer Jugendliebe wieder anknüpfte – einen Faden, der nach fünfzig Jahren wieder aufgenommen wurde. Die Zuschüsse waren Teil des kombinierten Regierungsprogramms zur Hebung der Gesundheit und Verbesserung der Lebensqualität in strukturschwachen Räumen, »Gesünderes Leben – besseres Wohnen«, und in den letzten Jahren ist Vallis Fitnessbude täglich von 7 bis 9 und von 12 bis 21 Uhr geöffnet, wir kaufen uns eine Jahreskarte, und selbstverständlich wäre das Leben besser, der Himmel heller und der Ort schöner, wenn wir die Karte auch häufiger nutzen würden, aber im Sommer und im Herbst schwänzen wir, im Dezember haben wir keine Zeit, und nur im Januar, Februar und im Frühling noch mal kommen wir ganz gut in Schwung, damit wir uns an den Sonnenstränden des Sommers auch wieder aus dem Wasser trauen können. Sonst aber setzt die Jahreskarte Staub an, und wir grinsen ein wenig verlegen, wenn wir Valli irgendwo begegnen, der stets vor Gesundheit, Frische und guter Laune nur so strahlt und Strähnchen im blonden Haar hat.
Kommst du, um ein bisschen zu trainieren?, fragt Valli, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich neben Kristin und legt ihr den muskelbepackten Arm um die Schulter. Ja, sagt sie, ich habe mir gedacht, aber Valli macht psst, zieht sie mit sich zu einem Tisch in der Ecke, merkt an, Denken und Zögern seien so gut wie Verlieren, und Kristin weiß gar nicht, wie ihr geschieht, ehe sie Anorak, Pullover und Socken ausgezogen hat und auf der Waage steht. Da
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