Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
er nannte sie seine Sonne, seine Butterblume, sein Licht und seinen Himmel, und höchstwahrscheinlich stimmt es, was einmal ein Dichter sagte, dass nämlich die Liebe das stärkste aller Elemente sei, die Urkraft, die das Rad des Lebens antreibe und verhindere, dass wir kopfüber in die graue Sinnlosigkeit des Lebens gestürzt werden. Doch obwohl die Liebe alles verändert, Länder verrückt und zwei getrennte Leben zusammenführt, hat sie doch keine Gewalt über etwas so Nebensächliches wie das Fleisch und die Lust. Der Nachbarhof von Samsstaöir heißt Valþúfa, und dort lebt Kristin mit ihrem Mann, zwei Kindern und der Schwiegermutter.
Um jene Zeit, Mitte der neunziger Jahre, hatte sich auch Kristin von der Fitnesswelle, die damals wie eine Erlösungsverheißung durch die westliche Welt rollte, mitreißen lassen. Neue Ziele, neues Denken. Die Fitnessstudios vermehrten sich schneller, als man zählen konnte, bald gab es davon mehr als Schulen und viel mehr als Kirchen, was ja nur angemessen ist, denn die Fitnesstrainer haben schließlich viel mehr Einfluss auf unser Leben als ein Pfarrer; deren Ära ist vorbei, die versteinern bald in ihren schwarzen Talaren und mit ihren Litaneien über einen Gott, den seit zweitausend Jahren keiner mehr gesehen hat, nach dem wir aber todsicher rufen werden, wenn das Ende naht.
Komischer Zufall, dass wir gerade auf Gott und die Priesterschaft zu sprechen kommen, denn über dem Eingang zu Vallis Fitnessstudio steht: »Der Körper ist dein Heiligtum«, und diejenigen unter uns, die im Spinningkurs vierzig Minuten mit der schwerstmöglichen Einstellung wie die Wahnsinnigen gestrampelt haben, sind sich völlig einig, dass der Schweiß und die Anstrengung den Geist so klar und den Körper so rein machen, dass man etwas Großes fühlt, bei dem es sich wohl um Gott handeln muss. Vierzig Minuten lang hältst du dich außerhalb von Zeit und Raum auf, es existiert nichts als die Anstrengung, dein eigener keuchender Atem, Vallis besänftigende Stimme in weiter Ferne und dann dieses Große, das das Universum zu füllen scheint.
Kristin war in ihren Anstrengungen noch nicht sonderlich weit gekommen, als sie das Studio aufsuchte, sie war auch nicht rank und schlank, sie war eine Bauersfrau, die es zur Angewohnheit hatte, jeden Abend ein volles Glas unpasteurisierter und nicht entrahmter Kuhmilch zu trinken und dazu ein Stück Kuchen zu essen. Sie hatte ihre Muskeln nicht mehr gedehnt und keinen Sport getrieben, seit sie die Gesamtschule in Akranes verlassen hatte und eigentlich Krankenschwester werden wollte, doch dann gingen die Jahre ins Land, und sie tat nichts von all dem. Seit Jahren hatte sie keinen Sport mehr gemacht, ihr Bauch war zu weich, zu schlaff, ihre Oberarme zu weich, sie hingen, und eines Tages sagte Kristin zu sich: Ich muss in bessere Form kommen. Sie guckte die Morgengymnastik im Zweiten, versuchte das gleiche fröhliche Lächeln wie die Menschen auf dem Bildschirm beizubehalten, denn wer gut in Form ist, kann selbst dabei noch lächeln, kaufte sich Jogginghosen und Schuhe. Beginnen Sie mit kurzen Distanzen, stand in einer Zeitschrift, und Kristin lief um den Hofplatz und dann hinaus ins Gelände, das sich in sämtliche Richtungen erstreckte, es lag ein gehöriger Abstand zwischen Valþúfa und Samsstaöir, etliche Steigungen, Hügel und Senken, in denen sich die Pferde herumtrieben und das ganze Jahr über grasten, die Schafe im Frühjahr und an schönen Wintertagen. Wie lang sind kurze Distanzen, fragte sich Kristin und war schon kaputt, ehe sie den Zaun erreicht hatte, kaum hundert Meter vom Haus. Sie hielt sich an einem Pfosten fest und keuchte nach Atem, der Hund machte Platz und wedelte freudig mit dem Schwanz, für ihn war es eine völlig neue Erfahrung, einen erwachsenen Menschen ohne erkennbares Ziel irgendwohin laufen zu sehen. Kristin blickte zurück, wusste, dass Petur und seine Mutter sie vom Küchenfenster aus beobachteten und die Köpfe über sie schüttelten. Sie stieß einen Fluch aus und trottete ermattet zurück, der Hund enttäuscht hinterher. Das schlecht verhohlene Grinsen ihrer Schwiegermutter beachtete sie nicht, ging unter die Dusche, masturbierte ein wenig ruppig, sogar etwas böse, und stellte sich dabei vor, sie triebe es mit zwei fremden Männern im Fitnessstudio, wahrscheinlich nur, um sich an den beiden da unten zu rächen, kleidete sich an, nahm den Wagen und fuhr in den Ort, parkte vor einem weiß gestrichenen Haus, Vallis Fitnessstudio
Weitere Kostenlose Bücher