Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
tragen muss.
Langsam wird der Himmel heller. Zwei Raben schweben über dem Genossenschaftsladen. Bald kommt der Wagen vom Schlachthof zurück, die Ladefläche voller Blöken und voll von einem Sommer, der noch innerhalb dieser Woche zu gekühlten Tierkadavern verarbeitet sein wird. Heute ist Dienstag.
Aki verlässt das Landratsamt, Asdis tut so, als wäre sie am Computer beschäftigt, und drückt sich so davor, ihn grüßen zu müssen, dann aber steht sie auf und sieht ihm nach, er geht zum Hang und verschwindet dort, wo der Fjord aus der Nacht auftaucht.
Er ist weg, ruft Asdis.
Soll er in der Hölle verrotten, ruft Mundi zurück, dann geht der Landrat in sein Büro und blättert mit Sorgenfalten auf der Stirn in seinen Unterlagen.
Aki geht am Tekla vorbei, dunkel da drinnen, und betritt den Schlachthof, er sieht dem Schlächter bei der Arbeit zu und den drei Männern am Förderband unterhalb der Tötungsplattform. Ein Jugendlicher mit CD-Player in der Jackentasche und dröhnendem Rap in den Ohren dreht die Tiere in die richtige Lage, wenn sie in Todeszuckungen von der Plattform rutschen, ihm gegenüber ein großer, gebeugter Mann um die sechzig mit einem ewigen Tropfen Rotz an der Hakennase, der den Lämmern die Kehle durchschneidet, das Blut schießt in eine Rinne, der Sommer sprudelt aus ihnen heraus, ein dritter schlägt ihnen Fleischerhaken in die Fersen, und das Band schleift die Tiere hinauf ins Obergeschoss, wo sie zu Hälften und schließlich zu Nahrung verarbeitet werden. Aki geht in den Stall und betrachtet die wiederkäuenden Tiere, die aussehen, als hätten sie Kaugummi zwischen den Zähnen, und ihn an Fußballer erinnern, zwei Schlachthofarbeiter kommen von oben, grüßen, er neigt ein wenig den Kopf, die beiden haben Pause und lehnen sich gegen das Gitter, zwanzigjährige Jungen von Bauernhöfen, Aufhängebügel baumeln ihnen am Gürtel, die Ösen für die Klauen zeigen nach vorn, aus der Scheide an ihren Hüften ragen drei Messer. Der Schlachthof-LKW ist zu hören, Aki beugt sich über das Gatter, lässt seine zierliche, weiche Hand hinüberhängen, an der ein Lamm vorsichtig schnuppert, er blickt ihm in die Augen, lauscht auf den gedämpften Knall des Bolzenschussgeräts, das dumpfe Klatschen, mit dem das getötete Tier aufs Band fällt, und denkt, so klein ist der Abstand zwischen Leben und Tod, zwischen Sommer und Winter, und er möchte noch mehr in dieser Richtung denken, aber es fällt ihm nicht mehr ein, und er zählt stattdessen die Anzahl der Köpfe im Pferch und geht dann; die beiden Arbeiter blicken ihm spöttisch nach, man grinst viel, wenn man um die zwanzig ist, da kann einem nichts etwas anhaben, und der Abstand zwischen Leben und Tod ist meist so groß, dass er gar nicht zu ermessen ist. Aki geht zum Wasser hinab und setzt sich auf einen großen Stein direkt am Ufer, kleine Wellen kommen und gehen, kommen und gehen, kommen und gehen, das Meer schläfert einen hypnotisch ein. Es verstreicht eine lange Zeit, und Aki guckt nur vor sich hin, ist weder in dieser Welt noch in einer anderen, es gibt ihn fast gar nicht, er ist kaum mehr als zwei wasserblaue Augen, die den Wellen dabei zusehen, wie sie kommen und gehen, kommen und gehen, Augen, die aussehen wie aus Glas geblasen. Dann kommt ihm etwas in den Sinn, ein Gedanke oder eine Eingebung. Es ist Dienstag, in seinem Terminkalender steht an jedem Dienstag zwischen halb zehn und zehn ein großes X, da steht Selbstbefriedigung auf dem Plan, meist macht er es über großformatigen amerikanischen Pornomagazinen, aber er besitzt auch zwei Bücher von Anai‘s Nin. Letzten Dienstag im Gästezimmer des Landratsehepaars war es ein bisschen schwierig, aber auch etwas aufregend, denn er hatte Solrun dabei reden gehört, wahrscheinlich am Telefon, und ihre Stimme klingt weich. Freue ich mich schon darauf?, fragt sich Aki und spreizt ein wenig die Beine, denkt an ein Kapitel aus dem Delta der Venus. Nein, ich freue mich nicht darauf, denkt er traurig, keine Veränderung in seinem Befinden, keine Erektion kündigt sich an, er blickt wieder über den Meeresspiegel, der sich in drei Richtungen dehnt und an einer Stelle von einer Inselkette durchbrochen wird, die den Horizont aufritzt. Wäre schön, wenn er die Fische zählen könnte, oder die Tränen, die ihm übers Gesicht laufen, die dünnen Wangen hinab, ohne dass er etwas fühlt, bis auf seine innere Taubheit, als hätten die Augen einen eigenen Willen oder als ob ihn die Tränen unbedingt
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