Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
von dem italienischen Rotwein aus Foggia, während sie ein Blatt irgendwo aus der Mitte des Stapels zieht und liest, höchstens zehn Sekunden, dann sagt sie: Hier stehen Zahlen.
Ja, natürlich, ohne Zahlen hätten wir einen schlechten Stand. Die halten alles zusammen.
Sie schüttelt den Kopf. Du bist auf einem falschen Weg, ich bin einfach sprachlos. Was möchtest du essen?
Donnerstagabend, und Kiddi zeigt oben im Gemeindezentrum einen Thriller, weshalb bei Tekla nicht gerade viele sitzen, Aki, Arnbjörn und noch vier weitere Gäste. Arnbjörn ist Stammgast, er lebt allein, und das schon immer, abends bindet er eine rote Fliege um, verteilt Rasierwasser auf seinem bulligen Gesicht und wirkt doch manchmal abwesend, erinnert an einen traurigen Bär. Sein Stammplatz ist am Eckfenster, herbstliches Dunkel zur einen Hand, Whisky zur anderen, so in etwa. Aber es tut gut, so ein klein wenig angetrunken zu sein, eines der angenehmsten Gefühle auf der Welt, die Landschaft verändert sich leicht in einem, die Dinge bekommen einen anderen Charakter, die Leute bewegen sich anders. Arnbjörn hatte schon versucht, Aki in ein Gespräch zu verwickeln, sie haben manches gemeinsam, haben beide studiert, sind beide allein im Ort, beide in den Vierzigern, und Gleichaltrige entwickeln im Lauf der Jahre immer mehr Gemeinsamkeiten, wenn wir erst über vierzig sind, wird die Vergangenheit ein immer aufdringlicherer Bestandteil unseres Lebens. Bislang hat Aki noch keinen an sich herangelassen, aber dieser Donnerstagabend ist anders, er hat diesen Stapel Papiere mitgebracht und schaut Elisabet nach, wie sie in der Küche verschwindet, und scheint mit ihrem Desinteresse höchst unzufrieden zu sein. Der Abend wird dunkler, legt sich über den Ort und die Dächer der Häuser. Aki hat die Flasche Rotwein geleert und ist zum Cognac übergegangen, er setzt sich zu Arnbjörn, der sein Buch zuklappt, die englische Übersetzung eines Romans von Andre Gide. Aki will Arnbjörn einen Whisky spendieren, einen Vierfachen, sagt er zu Elisabet, ohne den Blick von Arnbjörn zu wenden. Sie prosten einander zu, trinken, Aki ist in einem merkwürdigen Zustand, er will unbedingt reden, die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus: Wo warst du, als John Lennon erschossen wurde? Was meinst du wohl, was in diesen Unterlagen hier steht, he? Glaubst du, man kann die Fische zählen? Warst du schon mal in Mailand? Wann hast du eigentlich zum letzten Mal eine Frau abgeschleppt? Kann man in diesem Kaff überhaupt leben? Was, glaubst du, steht in diesen Papieren?
Arnbjörn versucht auf alles eine Antwort, kommt aber immer zu spät, Aki wartet gar nicht ab, sondern fragt immer weiter, nur einmal hält er inne, als Arnbjörn auf den Tod Lennons zu sprechen kommt, den Tränen nahe: Eine Kugel, die meine Jugend getroffen hat, sagt er und möchte am liebsten losheulen, er hat den Whisky zur einen Seite, das Herbstdunkel zur anderen, das sich über den Ort breitet, den Himmel überzieht und endlos weit in den Weltraum hineinreicht.
Tränen, sagt er später am Abend, eigentlich ist es schon Nacht, Tränen sind die Sprache des Schmerzes.
Aki starrt Arnbjörn an, hebt den Cognacschwenker an die Lippen und kippt den ganzen Inhalt, einen doppelten Remy Martin XO, verschluckt sich, hustet, steht auf und guckt Arnbjörn an, bis die Erde unter seinen Füßen wieder ruhiger wird, dann geht er hinaus in die Dunkelheit, lässt seine Papiere zurück, und Arnbjörn greift nach ihnen. Aki bleibt die ganze Nacht auf, sitzt bei Sölrün und Guðmundur im Wohnzimmer und dezimiert ihre Alkoholvorräte, wahrscheinlich ist er zum Saufen geboren, ein echtes Talent auf diesem Gebiet. Die Flasche wird stetig leerer, und dennoch kann er fast klar reden, als Guðmundur kurz nach drei aufwacht und sich gähnend seinem Gast gegenüber in einen Sessel fallen lässt. Er wartet, bis der Schlaf ganz aus seinem Körper gewichen ist, schenkt sich dann auch einen ein und sagt: Hier sitzt du also und säufst. Komisch, dass wir immer das Offensichtliche sagen, aber lass dich nicht täuschen, hinter solchen Worten steckt vielleicht eine Frage nach den tiefsten Gründen. Aki begreift, er weiß, dass Guðmundur ihn eigentlich fragt, weshalb er da sitzt, welches Ereignis in seinem Leben, welche schmerzliche Erfahrung, welches Missgeschick, welche Verzweiflung ihn auf diesen Stuhl gesetzt und ihm die Flasche in die Hand gedrückt hat, während draußen die Nacht ihre Kraft und ihre Finsternis aus den Tiefen des
Weitere Kostenlose Bücher