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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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verlassen wollten. Ratten und sinkende Schiffe, denkt er sarkastisch. Sitzt da auf diesem Stein. Kann die Fische nicht zählen. Kann die Tränen nicht zählen. Er denkt: wozu lebe ich?
    Am Abend isst er bei Tekla. Leise Musik vom CD-Player, vielleicht ein Streichquartett von einem vor langer Zeit gestorbenen Komponisten, Pasta, Rotwein. Zu Gymnasiumszeiten in den späten Siebzigern hatte er sich ein paar mal volllaufen lassen, als kaum etwas anderes zu haben war als Aquavit in Seven up und Wodka-Cola und es Rotwein nur im Kino und in diplomatischen Vertretungen gab. Wie fühlt sich das noch mal an, betrunken zu sein, dachte er, überflog die Speisekarte, studierte eingehend die Weinkarte, und vielleicht brachten ihn Erinnerungen an mutigere Zeiten dazu, eine ganze Flasche zu bestellen, keine halbe und nicht bloß ein Glas, vielleicht kam es aber auch daher, dass er die Fische nicht zählen konnte und auch nicht die Tränen, die ihm aus den Augen gelaufen waren, jedenfalls hatte er schon die halbe Flasche intus, ehe das Essen serviert wurde. Nach zwei Glas begann er genauso mit den Augen zu zwinkern wie wir. Nach drei Glas blickte er um sich und nickte den übrigen Gästen zu, es waren fünf ohne ihn, am Fenster saß Arnbjörn der Arzt. Beim sechsten Glas rief er Elisabet und sagte sehr langsam und sehr vorsichtig, als müsste er die Wörter erst mit den Händen aufreihen: Ich weiß so einiges über dich, dann kotzte er über den Tisch, über den Teller, auf den Boden, Elisabet bekam auch etwas ab, auf den grünen Pullover. Aki betrachtete staunend sein Werk, guckte Elisabet an und sagte: Ich konnte die Fische nicht zählen.

Sechs
    Es ließe sich mit Fug und Recht behaupten, dass es mit Aki, dem Mann, der weder die Fische noch die Tränen zählen konnte und deshalb die Kontrolle über sein Leben verlor, von nun an abwärtsging. Jeden Abend aß er nun im Tekla, wir hielten es anfangs für einen Teil seiner Nachforschungen, Elisabet sei schwer zu durchschauen und verschlagen, es brauche halt seine Zeit, ihr auf die Schliche zu kommen, und vielleicht glaubte Aki das auch, denn die Selbsttäuschung ist schließlich eine der stärksten Eigenschaften des Menschen. Schnell und zielstrebig trank er immer mehr, am fünften Abend schaffte er schon die ganze Flasche Rotwein, am sechsten hörte er auf, sich zu erbrechen, und bestellte noch einen Cognac obendrauf, langte gegen eins in der Nacht schwankend bei Guðmundur und Sölrün an; um halb neun erschien er im Büro, noch schweigsamer als sonst, schloss sich ein, und es war zu hören, dass er am Computer arbeitete. Bei all dem sah er keineswegs aus wie ein Mann auf dem Abstieg, sondern immer wie aus dem Ei gepellt, und beim Essen benahm er sich so manierlich, dass wir anderen uns fühlten wie ungehobelte Bauern neben einem geborenen Aristokraten. Natürlich registrierten wir, dass er sich fast jeden Abend mit Alkohol aus dem Leben schoss, aber wir dachten, das täte er aus Langeweile, hier, im Zentrum der Ereignislosigkeit, dachten, er würde Kinos vermissen, Theater, Konzerte, das Rauschen des Lebens. Sicher, hier herrschte reges Treiben im Schlachthof, und es gab Kiddis Filmvorführungen, aber was ist das schon im Vergleich mit dem Blut in den Adern der Großstadt, und die Tage wurden dunkler und die Nächte länger, denn der Winter rückte näher und zog einen schwarzen Wagen hinter sich her. Die zehn Hände machten sich Sorgen um Aki, sie wussten, dass einem anständigen Mann die permanente Nähe Elisabets nicht guttat, noch dazu, wenn er betrunken war, und sie die Verschlagenheit in Person.
    Aber was wissen wir schon? Gar nichts.
    Neun Tage, nachdem es Aki nicht geschafft hat, die Fische im Meer zu zählen, sitzt er auf seinem Platz im Tekla. Er hat in der Stadt angerufen und erklärt, er müsse ein paar Tage krankmachen, es ist das Herz, hat er gesagt, ich schicke ein Attest. Jetzt ist Donnerstagabend in exakt der Woche, in der sich eine Frau im Ort mit einem blauen Teppichmesser in die Badewanne legt, auf Akis Tisch liegt ein dicker Stapel Papier.
    Hast du einen Roman geschrieben?, fragt Elisabet. Da öffnen sich Akis schmale Lippen einen Spalt, und er bekommt diesen Raubtierausdruck im Gesicht. Er tippt mit einem seiner schmalen Finger auf den Stapel und sagt: Das hier ist alles über dich. Es ist ein genaues Dossier über deine Person, darüber, was du tust, hier steht alles drin, und du kommst nicht mehr davon. Möchtest du es lesen?
    Er lehnt sich zurück, trinkt

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