Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Agüsta eine Freude und nehmen sie wichtig, außerdem durchrieselt uns ein angenehmes Gefühl wie damals, als wir Cola durch ein Lakritzrohr tranken, oder wie wenn wir ins Heimatmuseum gehen oder eine alte Tante besuchen: wir erweisen damit einer vergangenen Zeit Treue und Wohlwollen.
Sechs
Früher war das Postamt einer der Mittelpunkte des Ortes, Briefe und Pakete strömten ein und aus, für die, die über die Bezirksgrenze hinaus telefonieren mussten, gab es zwei Telefonzellen, und dienstags bildeten sich oft Schlangen vor ihnen. Es war der Stichtag, um in der Hauptstadt Alkohol für das nächste Wochenende zu bestellen. Heute sind die Telefonzellen abmontiert und die Tage längst vergangen, an denen Agüsta den Hörer ans Ohr pressen konnte. Wir haben sogar unseren eigenen Alkoholladen im Dorf, geöffnet dienstags und donnerstags von 13 bis 14.30 Uhr. So ändert sich eben alles im Leben.
Vor dreißig Jahren waren noch vier Frauen im Postamt beschäftigt, da war Agüsta blutjung und trug einen so roten und dicken Lippenstift, dass er wie ein Stoppschild wirkte, vielleicht ist sie deswegen noch immer unverheiratet, obwohl sie inzwischen schon ein bisschen in die Jahre gekommen ist. Aber vier Frauen vor dreißig Jahren und heute nur noch Agüsta, abgesehen von den Briefträgern, einem, der im Ort austrägt, und vier anderen, die das Umland beliefern. Wenn im Dezember die Päckchenflut anschwillt, hat sie zwei Nichten, die ihr aushelfen, noch so jung, dass sie alles in Aufruhr versetzen, die Jungen kommen auf einmal mit Briefen und Ansichtskarten, schicken irgendwem irgendwas, Hauptsache, sie können sie ansehen. Agüsta und die Post gehören zusammen wie ein Arm und der Ärmel. Ihre Postboten dirigiert sie mit eiserner Disziplin, dabei ist sie klein und zierlich, leicht wie eine Feder, wenn der Wind über 12 Meter pro Sekunde zunimmt, schwebt sie in Lebensgefahr, andererseits ist sie heiser und verrunzelt, wie es nur Kettenraucher werden, und ihre Hände erinnern manchmal an kleine Hündchen.
Den Vergleich mit den Hunden haben wir uns gut ausgedacht, denn Agüsta ist enorm neugierig, und es fehlte nur wenig und ihre Vorwitzigkeit hätte sie den Job und ihren guten Ruf gekostet, sie wurde sogar abgemahnt, blieb aber immer standhaft, ließ sich nicht auf Abwege locken und blieb sich selbst treu. Das alles fing Mitte der siebziger Jahre an, als die Welt noch anders war, als es noch die Beatles gab, man ein Flugzeug bestieg, ohne an Terroristen zu denken, die Straßen nach dem Winter erst spät wieder befahrbar wurden und noch mehr Schlaglöcher hatten, die Abstände noch größer waren und die Welt daher größer erschien, und als die Post noch zu den Knotenpunkten im Miteinander der Menschen gehörte. Agüsta arbeitete seit drei, vier Jahren bei der Post, war wohlgelitten und ausgesprochen tüchtig, aber irgendetwas brodelte in ihr, eine innere Unruhe, sie war nicht richtig zufrieden, etwas fehlte im Leben; und da öffnete sie eines Tages einen Brief, den sie eigentlich weiterbefördern sollte, und las ihn. Das tat gut, wie der erste Zug an der Zigarette nach langer Abstinenz, ein Wonnegefühl rieselte ihr durch den Körper, und Agüsta seufzte. Eins kam zum anderen, sie öffnete noch einen Brief, ein Päckchen, ein Paket, und wurde so allmählich zu einer der bestinformierten Nachrichtenquellen im Ort, sie versorgte uns mit großen und kleinen Neuigkeiten, klatschte über Hoffnungen und Enttäuschungen, deckte zwei Seitensprünge auf und steckte dreimal Eltern, dass ihre Sprösslinge laut Schreiben an ihre Brieffreunde kurz davor standen, auf die schiefe Bahn zu geraten. Es mag dir komisch vorkommen, dass die Leute hier es hinnahmen, wenn Agüstas Hände wie zwei neugierige Hündchen die Post durchstöberten, genau wussten, wer was bekam, wer Pornoheftchen abonniert hatte oder Schmuddelblätter, wie sie das damals nannte. Du darfst aber nicht vergessen, dass der Winter hier lang sein kann, lang und ereignislos; wir sind nur wenige, die Straßen sind verschneit, und der Wind pfeift zwischen den Häusern. Da hilft es schon, sich eine kleine Besorgung auf der Post auszudenken, Agüsta gegenüber eine entsprechende Bemerkung zu machen und anschließend mit Neuigkeiten versorgt wieder nach Hause zurückzukehren, Kleinigkeiten, etwas Klatsch, den man genüsslich bei einer Tasse Kaffee noch einmal durchkauen kann, um etwas Zeit totzuschlagen. Aber es fehlte halt nur wenig, vielleicht ein Fingerbreit, und Agüsta hätte
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