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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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ihre Arbeit und ihr Ansehen verloren, man warf ihr vor, die Privatsphäre zu verletzen und Vertrauen zu missbrauchen, man nannte sie eine Tratschtante, ein Schandmaul, Giftspritze, Hexe. Damals schnellte ihr Zigarettenverbrauch von einem Päckchen täglich auf über zwei und ist seitdem auf diesem Niveau geblieben, sodass man auch sagen kann, die Anwürfe, die bösen Worte hätten Agüstas Leben um einige Jahre verkürzt, da hätte sich manch einer ganz schön was aufs Gewissen geladen. Aber entlassen wurde sie nicht. Die Aufregung legte sich einfach. Mit der Zeit lernte sie es, die Dinge geschickter anzugehen, sie drückte sich so aus, als hätte sie die Neuigkeit von anderen erfahren, damit täuschte sie natürlich niemanden, aber man gewöhnt sich an alles, am Ende wird alles irgendwie normal und selbstverständlich. Außerdem waren ihre Hinweise zweifellos oft von Nutzen, Agüstas Neugier hat Ehen gerettet und Menschen aus aussichtslosen Beziehungen befreit, wir haben uns die Umstände zunutze gemacht, manchmal bloß deswegen Briefe aufgegeben, damit etwas herauskäme, aber die Zeiten ändern sich, es gibt immer weniger Postämter, sie werden geschlossen oder in Lebensmittelgeschäften in die Ecke gequetscht und verlieren dort ihren eigenen Charakter, das nennt man Rationalisierung, und E-Mails machen Postboten arbeitslos. Agüstas Bedeutung für unsere Gemeinde hat nachgelassen, sie steht nicht mehr im Mittelpunkt, und erst als der stete Strom der Briefe und Päckchen für den Astronomen einsetzte, merkten wir, wie sehr wir auf Agüsta angewiesen waren, auf ihre Neugier und ihre Findigkeit. Du kannst dir vielleicht ihr Unzulänglichkeitsgefühl vorstellen, als sie die ersten Briefe öffnete und sah, dass sie alle auf Latein geschrieben waren. Agüsta hatte es immerhin geschafft, sich durch englische Briefe zu buchstabieren oder solche, die in einer skandinavischen Sprache verfasst waren, schließlich besaß sie gute Wörterbücher. Aber was mache ich jetzt, dachte Agüsta und drehte den ersten Brief in ihren tabakgelben Fingern. Am Tag danach traf der zweite ein, dann der dritte, innerhalb einer Woche waren es sechs geworden. Agüsta nahm das richtig mit, sie bekam Ringe unter den Augen, wirkte niedergeschlagen, wir merkten es ihr an, vielleicht hat sie Krebs, dachten wir und verfluchten das Rauchen. Aber Agüsta gehört nicht zu denen, die die Flinte ins Korn werfen, sie ist resolut und beharrlich, ein Kämpfer, und sie sprach mit Jakob dem Fernfahrer, der ihr einige Tage später ein lateinisch-isländisches Wörterbuch mitbrachte. Doch es war nicht leicht, Zugang zum Lateinischen zu finden, außerdem waren die Briefe alle mit der Hand geschrieben und die Schreiber schienen sich in ihren Sauklauen überbieten zu wollen. Schmierfinken, sagte Agüsta. Wir waren alle enttäuscht, als hätte Agüsta versagt, und sie spürte es und ließ manchmal ohne Grund den Kopf hängen. Mehr Briefe trafen ein, doch allmählich ließ Agüsta davon ab, sie überhaupt zu öffnen, Schweigen breitete sich über ihnen aus, ein geheimnisvolles Schweig.

Sieben
    Was mag er wohl denken, fragten wir manchmal und meinten natürlich den Astronomen, wie geht es ihm, was geht in Menschen wie ihm vor, die alles aufgegeben haben, die dem Wohlstand, der Familie und dem Alltagsleben den Rücken gekehrt haben? Das brannte uns auf den Nägeln, war ein ergiebiges Gesprächsthema an den langen Winterabenden, wenn uns die Welt vergessen zu haben scheint und sich nichts ereignet, als dass der Himmel die Farbe ändert. Es gab dementsprechend großes Aufsehen, als Elisabet im Kaufladen an der gleichen Stelle, an der der alte Geir und später Kiddi seit dreißig Jahren ihre Filmvorführungen ankündigen, einen Aushang anschlug:
    Worauf es ankommt
Vom nächsten Mittwochabend an wird der Astronom jeden Monat im Gemeindezentrum einen Vortrag darüber halten, worauf es ankommt. Die Vorträge beginnen pünktlich um 21 Uhr, dauern, mit Lichtbildern, etwa 40 Minuten und werden vom Nordischen Ministerrat gefördert. Im Anschluss werden Fragen beantwortet. Kaffee gratis.
    Das Gemeindezentrum war bis auf den letzten Platz besetzt, der Besuch reichte an die größten Kassenschlager der Filmvorführungen Kiddis heran, James Bond oder Die Hard. Davið und Elisabet hatten alle Hände voll zu tun. Kaffee und Schmalzkringel austeilen, Garderobe annehmen, Plätze anweisen, es war ein großer Abend, und wir alle hatten ein Kribbeln im Bauch, denn jetzt war es so weit,

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