Sommermaerchen
rufe.“
Sie eilten durch den Rosengarten und trennten sich am Rande des Wäldchens. Eloise war allein und wurde einen Moment von Panik ergriffen. Dann riss sie sich zusammen und ging weiter. Dunkle Wolken schoben sich vor den Mond. Die Bäume schienen im sanften Windhauch zu seufzen. Ein eiskalter Schauder lief Eloise über den Rücken. Da kam der Tempel in Sicht. Er leuchtete milchweiß im schwachen Mondlicht. Um sich Mut zu machen, atmete Eloise tief durch, stieg die Stufen empor und trat ein.
Schwach drang das silbergraue Mondlicht durch die großen Fenster, sodass Eloise sofort den Mann entdeckte, der halb aus dem Schatten einer Ecke trat. Sein Gesicht zeichnete sich als ein gespenstisch fahles Oval gegen die Dunkelheit ab.
„Ich bin gekommen“, sagte Eloise und straffte die Schultern. „Was wollen Sie also von mir?“
„Das hängt davon ab.“ Das raue Flüstern verursachte ihr Gänsehaut. „Wie sehr wollen Sie das Tagebuch zurückhaben?“
Scheinbar gelassen zuckte sie die Achseln. „Es ist mir wichtig, das gebe ich zu, aber nicht sehr. Immerhin stehen keine Namen darin.“
Er lachte leise. „Ich bitte Sie, Lady Allyngham. Die Erinnerungen eines ganzen Jahres sind enthalten: Orte, Daten. Es gehört nicht viel Intelligenz dazu, die Leute zu identifizieren, die darin erwähnt werden. Ich überlege, ob ich es nicht an die Zeitungen schicken ...“
„Wie viel wollen Sie?“, unterbrach sie ihn schroff.
„Alles.“
Ihr wurde bange ums Herz. „Geben Sie sich zu erkennen!“, forderte sie ihn zornig heraus. „Ich bin es müde, mit einem Schatten zu reden. Ich verlange, den Schurken zu sehen, der es wagt, mich zu bedrohen!“
Wieder das leise Lachen. „Schurke, Ma’am? Aber ich bin doch Ihr glühendster Verehrer.“
Er machte einen Schritt vorwärts, und verblüfft erkannte sie Sir Ronald Deforge. Die Angst und das Entsetzen, die sie eigentlich hätte empfinden müssen, wichen unendlicher Erleichterung – Erleichterung, dass es nicht Jack Clifton war. Sir Ronald stand gelassen da, eine Hand auf einen Gehstock mit silbernem Knauf gestützt. In seinem modischen Aufzug sah er aus, als würde das Aufregendste, das er im Schilde führen konnte, ein Spaziergang durch die Bond Street sein.
„Ein Verehrer, der vor Erpressung nicht halt macht“, sagte sie verächtlich. „Wie sind Sie zu dem Tagebuch gekommen?“
„Ein glücklicher Zufall, meine Liebe, mehr nicht. Vor einer ganzen Weile ritt ich auf meinem Weg zurück nach London die Great North Road entlang. An einem Gasthof wurde ich von einem zerlumpten Bettler angesprochen. Er wollte mir das Tagebuch geben, wenn ich ihm dafür die Postkutsche nach London bezahlte.“
„Also kauften Sie es.“
„Selbstverständlich nicht. Ich gehe keine Geschäfte mit Dieben ein. Er wusste nicht, worum es sich bei dem Buch handelte. Ich bezweifle, ob er überhaupt lesen konnte.
Nein, ich nahm es ihm einfach ab, drohte ihm mit dem Friedensrichter und sagte, ich würde das Tagebuch seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben.“ Er lächelte spöttisch. „Da ahnte ich natürlich noch nicht, welch angenehme Aufgabe das sein würde.“ Er kam gemächlich näher. „Ich gebe zu, als ich das Tagebuch las, dachte ich daran, es zu verkaufen. Doch dann kamen Sie in die Stadt, und ich war gefesselt von Ihnen. Je öfter ich Sie sehe, desto mehr entflamme ich für Sie.“
Sie wich schaudernd vor ihm zurück. „Sie ekeln mich an.“
„Was für ein Jammer, Mylady, denn es gibt nur einen Weg, wie Sie das Tagebuch von mir bekommen können.“ Er wartete, bis sie ihn ansah. „Sie müssen mich heiraten.“
Eloise lachte ihm ins Gesicht. „Der Vollmond muss Ihren Geist verwirrt haben, Sir Ronald! Dazu werden Sie mich niemals bringen.“
„Oh, ich denke schon, Ma’am. Überlegen Sie, welche Konsequenzen Ihre Weigerung nach sich ziehen wird. Machen Sie sich keine Hoffnungen, mir das Buch entwenden zu können. Es liegt bei meinem Anwalt in London. Er hat Anweisung, es sofort veröffentlichen zu lassen, sollte mir etwas zustoßen. Beten Sie also, dass mir nichts geschieht.“ Er kam wieder auf sie zu, und es kostete Eloise große Überwindung, nicht zu fliehen, als er leicht ihre Wange berührte. „Schauen Sie mich nicht so entsetzt an, meine Liebe. Sie werden es vielleicht sogar genießen, meine Frau zu werden.“
Voller Abscheu stieß sie seine Hand fort. „Wie können Sie eine Frau heiraten wollen, die Sie nur flüchtig kennen?“
Er sah sie mit einem so
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