Sommermaerchen
Frauen ebenso sehr zu ihm hingezogen wie du.“
Beatrice seufzte. „Ich habe verstanden.“ Lord Pelham entsprach exakt dem Bild, das sie sich von ihrem Traummann gemacht hatte. Indes hatte sie bereits entschieden, dass sie zu hohe Erwartungen hegte und es unvernünftig war, zu träumen. Nein, es war klüger, ihn zu vergessen und sich mit einem netten, biederen, respektablen Gentleman zu vermählen, bei dem ihr Herz nicht schneller schlug. Und von dieser Sorte gab es in der Saison weitaus genug in London.
Charles schlief ungewöhnlich lange an dem Morgen nach Lady Teasdales Ball.
Obwohl er meist recht spät zu Bett ging, war er – besonders im Sommer –
gewöhnlich früh auf den Beinen, um im Park auszureiten, bevor dort zu großes Gedränge herrschte. Letzte Nacht hatte er jedoch erst in den frühen Morgenstunden Schlaf gefunden, und als er schließlich eingeschlummert war, träumte er von einem goldblonden Engel.
Zufrieden streckte er sich im Bett und ließ die kürzlichen Ereignisse Revue passieren.
In letzter Zeit hatte er ausgesprochen große Langeweile verspürt. Beatrice Sinclair bot genau die Zerstreuung, nach der er sich sehnte.
Gleich darauf runzelte er die Stirn. Er sollte baldmöglichst in sein eigenes Haus zurückkehren. Zum einen, weil seine Mutter ihn mit ihren Kuppeleiversuchen in den Wahnsinn trieb. Vor allem aber, weil er festgestellt hatte, dass er sich eindeutig zu Beatrice Sinclair hingezogen fühlte. Viel zu sehr hingezogen fühlte. Allein der Gedanke an sie, wie sie im Garten, umgeben von blühenden Sträuchern, im Gras lag oder nebenan in ihrem Bett schlummerte, nur durch einen kleinen Hof und eine Wand von ihm getrennt ... Ebenjene Vorstellung hatte ihn mehr als die halbe Nacht wachgehalten, und er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder erholsamen Schlaf finden würde, wenn er hierblieb.
Dabei wusste er nicht einmal, warum er sie so faszinierend fand; ob es an ihren Sommersprossen lag oder an ihren zierlichen Füßen. Möglicherweise erregte sie aber auch sein Interesse, weil sie sich so ungezwungen benahm und zu viel redete –
eine angenehme Abwechslung. Die meisten jungen Damen gebärdeten sich steif wie Porzellanpuppen, und ihre Unterhaltungen drehten sich allein um das Wetter und die neueste Mode.
Er hegte den Wunsch, mehr über Miss Sinclair zu erfahren. Es war ihre vierte Saison, und er fand es merkwürdig, dass ihm ihr Name nie zuvor zu Ohren gekommen war.
Zwar hatte er einige Jahre im Auftrag des Kriegsministeriums auf dem Kontinent verbracht, aber seinen Dienst hatte er bereits vor drei Jahren quittiert. In den letzten beiden Jahren hatte er sich während der Saison in London aufgehalten. Warum war er Beatrice Sinclair nicht schon längst begegnet? Sie war keine Frau, die man leicht übersah.
Außerdem fragte er sich immer noch, wie alt sie war und warum sie keinen Gatten hatte. Bei ihrer Begegnung am Vorabend hatte sie unschuldig und unerfahren auf ihn gewirkt. Das hatte sein Blut in Wallung gebracht, ihn zugleich aber auch vorsichtig werden lassen. Er stand zwar im Ruf, bei Liebesaffären keine großen Skrupel zu hegen, indes verführte er keine unerfahrenen jungen Damen. Das konnte mehr Ärger bereiten, als es die Sache wert war.
Vielleicht täuschte der Eindruck aber auch. Er hoffte es. Es schien ihm unmöglich, dass eine solch schöne Frau nach mehreren Saisons noch unberührt war, es sei denn, sie war ausgesprochen prüde. Auf ihn hatte sie aber ganz und gar nicht prüde gewirkt, auch nicht schüchtern. Gewiss konnte sie nicht gänzlich unerfahren sein.
Charles stieg aus dem Bett und klingelte nach seinem Kammerdiener Smythe.
Einige Minuten später band ihm Smythe das Krawattentuch. Charles beobachtete den aufwendigen Vorgang im Spiegel, wobei sein Blick unwillkürlich auf die Narbe fiel, die über seine Kehle verlief. Es war eine grimmige Erinnerung an seinen Dienst für das Kriegsministerium. Eine Erinnerung, die er zu verdrängen suchte.
Während Smythe ihm das Krawattentuch so zurechtzupfte, dass es die Narbe verbarg, schweiften seine Gedanken wieder zu Beatrice Sinclair. Lucy wusste wahrscheinlich mehr über sie. Seine Schwester besaß die unheimliche Gabe, über jedermann in der Gesellschaft Bescheid zu wissen.
Zehn Minuten später schlenderte Charles ins Frühstückszimmer, in das die frühsommerliche Sonne ihre hellen Strahlen schickte . Er war erleichtert, Lucy allein dort vorzufinden.
„Wo ist Mutter?“, fragte er, während er Rührei auf
Weitere Kostenlose Bücher