Sommermond
unten, hatten ihn nur nicht wecken wollen. Er verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Mit der Tasche in der linken Hand und die rechte an seiner schmerzenden Wunde schleppte er sich erst durch den Flur und anschließend die Treppen hinunter. Kaum dass er im Erdgeschoss ankam, stürzte seine besorgte Mutter auf ihn zu und riss ihm die Tasche aus der Hand.
„Mensch, Schatz!“, schimpfte sie. „Das hätten wir doch gemacht. Du sollst dich schonen!“
Ben blickte nicht zu ihr auf. Still beobachtete er, wie sie seine Tasche zum anderen Gepäck neben die Kommode im Eingangsbereich stellte.
„Ihr müsst mich nicht ständig in Watte packen“, meinte Ben und klang gereizt.
Seine Mutter schob alle Taschen noch etwas weiter in die Ecke und kehrte anschließend zu ihm zurück. Mit mütterlichem Blick blieb sie vor ihm stehen und setzte einen fragenden Blick auf.
„Ben, was ist los?“, fragte sie.
„Nichts, was du verstehen würdest“, gab Ben trocken zurück.
„Es ist wegen Alex, richtig?“, hakte sie dennoch nach.
Ben schwieg daraufhin. Er trat zwei Schritte rückwärts, setzte sich auf die Treppen und senkte den Blick. Im Augenwinkel beobachtete er, wie seine Mutter sich neben ihn setzte. Fürsorglich legte sie eine Hand auf sein Knie.
„Ich kann dich ja verstehen“, begann sie ruhig. „Ich war in deinem Alter nicht anders.“
„Das hat doch nichts mit dem Alter zu tun!“, gab Ben verärgert zurück.
Daraufhin schwieg seine Mutter. Ben machte es ihr nicht leicht. Das wusste er.
„Weißt du?“, fuhr er deshalb fort. „Ich würd‘ am liebsten einfach hier bleiben und warten, bis er zurückkommt. Ich hab‘ keine Lust, im Streit auseinander zu gehen.“ Er stockte kurz. „Und dann träum‘ ich auch noch so ‘nen Mist!“
„Du hast von ihm geträumt?“, fragte seine Mutter. „Na, wenn das keine Liebe ist.“
Sie versuchte ein Lächeln. Doch Ben war nicht zum Lächeln zumute.
„Hat er sich denn inzwischen gemeldet?“, fragte sie weiter.
Ben nickte. „Er klang total komisch … meinte, er wäre verkatert. Ach, ich weiß nicht!“
Er machte wilde Gesten, bevor er seine Hände schlaff auf seine Oberschenkel fallen ließ.
„Was weißt du nicht?“, hakte seine Mutter nach.
„Das passt alles nicht zusammen!“, erwiderte Ben. Er war völlig aufgebracht. „Er will jetzt Abstand und findet es vollkommen okay, dass ich zurück nach Flensburg fahre. Vor dem Streit war das noch anders.“
„Mehr hat er nicht gesagt?“, fragte seine Mutter.
Ben schüttelte den Kopf. „Und genau das passt nicht zu ihm. Wieso sollte er erst mit allen Mitteln um mich kämpfen, sich als schwul outen und sogar sein Leben für mich riskieren? Wieso?“ Er pausierte und holte tief Luft. „Nur, damit er dann beim nächsten Streit die Fliege macht?“
„Vielleicht weiß er nicht, wie er mit eurer örtlichen Trennung umgehen soll?“, spekulierte seine Mutter. „Vielleicht ist das eine Art Selbstschutz.“
Ben nahm die Worte auf und dachte über sie nach. Natürlich könnte das der Grund sein, doch das glaubte er nicht. Sie hatten sich wegen der Polizei gestritten und Alex hatte ungeheure Panik vor der Pokerbande. Vermutlich hat es weitere Drohungen geben, aus denen er Ben heraushalten wollte, nachdem dieser sein Vertrauen missachtet und alle Details an die Polizei weitergegeben hatte.
Ben zuckte mit den Schultern.
„Ja“, sagte er. „Ja, vielleicht hast du recht.“
Er spürte den besorgten Blick seiner Mutter und wollte gerade mit einem erzwungenen Lächeln zu ihr aufblicken, als sein Vater aus dem Wohnzimmer stürmte.
„Ach, hier steckt ihr!“, begrüßte er die beiden. „Johannes fühlt sich dazu verpflichtet, uns auf ein Abschiedsessen einzuladen. Kommt ihr?“
Ben sah zu seinem Vater auf. Es passte ihm nicht, wie euphorisch er klang. Er verhielt sich, als wären sie auf der Rückreise eines tollen Urlaubs, aber nicht, als ob sie gerade etliche Strapazen hinter sich gebracht hatten.
Seine Mutter klopfte ihm zweimal aufmunternd aufs Bein, bevor sie aufstand. Dann reichte sie Ben eine Hand und half ihm hoch.
„Kommt ihr gleich ins Esszimmer?“, fragte sein Vater.
„Ja. Peter, geh ruhig schon vor!“, erwiderte Bens Mutter.
Dann wandte sie sich wieder an ihren Sohn.
„Er wird es noch bereuen, sich nicht richtig von dir verabschiedet zu haben“, sagte sie und meinte damit Alex. „Wer weiß? Vielleicht steht er ja auch in ein paar Tagen vor unserer Haustür und will dich
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