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Sommermond

Titel: Sommermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. Hart
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dieser Versuch in einer Schussverletzung geendet hatte, hätte niemand vorhersehen können. Vermutlich hätte es Ben ohne Alex‘ Eingreifen wesentlich schlimmer getroffen.
    Auch hatte Alex ein ausgeprägtes Gewissen. Seine Gefühle versuchte er immer mit Coolness und Arroganz zu überspielen, aber in Wahrheit war da mehr. Nicht umsonst hatte er Ben vor der ersten Übergabe einen Brief hinterlassen und bei der Polizei gestehen wollen. Er fühlte sich schlecht, weil er bei einer alten Frau eingebrochen war und tatenlos dabei zugesehen hatte, wie Diego einen unschuldigen Studenten zu Tode geprügelt hatte. Er hatte ja sogar ein schlechtes Gewissen für seinen Vater gehegt, nachdem er ihn bestohlen hatte. Es hatte ihm leid getan, obwohl Jo der Letzte in seiner näheren Umgebung war, der irgendeine Form von Mitleid verdient hatte.
    Ben presste die Lippen zusammen und blickte vor sich ins Leere. Das Foto hing in seiner rechten Hand. Jeglicher Schnee war binnen kürzester Zeit verschwunden. Nur noch wenige Reste hielten dem Tauwetter an den Stellen stand, an denen zuvor viel Schnee zusammengekehrt worden war. Der Schnee schmolz und legte Farben frei, die man in der Zeit des Winters vergessen hatte: dunkelgrüne Wiesen, braunes Holz und rote Gehwege.
    Der Schnee war vergänglich, die Jahreszeiten waren vergänglich und seine Gefühle zu Nick waren es. Ben wurde melancholisch. Das Leben ratterte in einer solchen Geschwindigkeit an einem vorbei, dass man den Blick fürs Wesentliche verlor und sich nicht selten mit Tatsachen abfand, statt sie genauer zu hinterfragen. Zum Beispiel hätte er Nick damals gern gefragt, warum er ihre Beziehung beendet hatte. Zwar spielte das jetzt keine Rolle mehr, doch zu jenem Zeitpunkt hatte es eine gespielt und hätte seinem Leben vielleicht einen anderen Lauf beschert. Dieser Gedanke erinnerte Ben an einen Film namens „Butterfly Effect“ , den er vor einigen Jahren mit seinem besten Kumpel und dessen Freundin gesehen hatte und in dem die Theorie aufgegriffen wurde, dass jedes Wort und jede Handlung eine Lawine an Folgeereignissen nach sich zog. Für welche Reise man sich letztendlich entschied, lag an einem selbst. Doch hatte man sich erst einmal entschieden, gab es kein Zurück mehr.
    Ben seufzte. Es gab Momente im Leben, in denen man sich plötzlich leer und unwichtig fühlte. Momente, in denen man den Sinn des Lebens und insbesondere den des eigenen hinterfragte und zu der Schlussfolgerung kam, dass man nur eine bedeutungslose Rolle im Universum spielte. In genau so einem Moment befand er sich aktuell. Plötzlich stellte er alles in Frage: seine Beziehung zu Nick, seine Eltern und sogar sein Studium. Alles erschien ihm so unwichtig im Vergleich zu den Gefühlen, die ihn von innen heraus zerfraßen und die Macht besaßen, ihn binnen kürzester Zeit in ein sentimentales Wrack zu verwandeln. Wie wichtig war schon sein Studium, wenn er an dessen Ende zwar einen tollen Abschluss, aber niemanden an seiner Seite haben würde, mit dem er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Vielleicht gab es solch einen Jemand gar nicht. Vielleicht entsprang jegliche Vorstellung vom perfekten Glück nur den schauspielerischen Leistungen der Hollywoodstars. Vermutlich hatte er es als Schwuler dabei besonders schwer getroffen, weil ihm immer neue Probleme begegnen würden, die jedes Glück in Frage stellten. Auch stand ihm nicht die typische Variante zur Auswahl, am Ende seines zielstrebigen Pfads mit Frau, Kind und Kegel in einem Sommerurlaub am Strand zu spielen. Nein. Er sah sich allein. Allein in irgendeiner Wohnung und auf nichts anderes fixiert als seine Karriere, die seinen einzigen Halt darstellte.
    „Scheiße …“, murmelte er und atmete tief durch.
    Als er weiter nachdenken wollte, riss ihn Nicks Stimme aus den Gedanken.
    „Ben?“, fragte der Schwarzhaarige. „Alles in Ordnung?“
    Ben zuckte mit den Schultern und blieb regungslos sitzen. Irgendein Reflex trieb ihn unbewusst dazu an, Alex’ Foto zu knicken und es in seine vordere Hosentasche zu stecken.
    Nick trat näher auf ihn zu und blieb wenige Meter von ihm entfernt stehen.
    „Wir wollen jetzt los“, sagte er.
    „Ja“, erwiderte Ben nüchtern. „Ja, genau. Ihr wollt jetzt los.“
    Nick machte eine unklare Geste mit seinen Händen, bevor er sie schlaff an seine Seiten fallen ließ.
    „Ben, ich weiß, dass das schwer für dich ist“, sagte er dann.
    Der Angesprochene schüttelte kaum merklich den Kopf.
    „Nein, Nick. Das weißt du

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