Sommermond
keine war, allerdings von ganz allein ausgebrochen und hatte ihn zu einem von ihnen gemacht.
Das war ein merkwürdiger Gedanke. Alex schüttelte ihn von sich und bog rechts ab, kurz darauf noch einmal links. Dort wurde er fündig. Eine freie Parklücke zwischen einem silberfarbenen Nissan und einem roten Renault lachte ihn an.
Geistesabwesend bewegte er die Schaltung. Er starrte auf den freien Bereich zwischen den beiden Autos und erwischte sich bei der Überlegung, abhauen zu wollen. Doch dann atmete er einmal tief durch, fuhr schließlich vorwärts und parkte ein. Zusammen mit einem Blick in den Innenspiegel zog er die Kapuze zurück über seinen Kopf. Dabei sah er, wie blass er war. Vermutlich brachte ihm das sogar einen Vorteil. Mit fehlender Gesichtsfarbe ähnelte er einem Drogenjunkie wesentlich mehr, als wenn seine Wangen rot und gesund glänzen würden.
Er griff nach seinen Zigaretten, quetschte sie in seine überfüllten Taschen und stieg aus. Er verriegelte den Wagen, umrundete ihn und blickte sich in der ihm unbekannten Gegend um. Dann machte er sich auf den Weg zurück in die Lange Reihe . Die Läden füllten sich zunehmend. Vor einem Café standen zusammengeklappte Tische und Holzstühle, von denen Regenwasser zu Boden tropfte. Alex stopfte seine Hände in die Taschen – aus Angst, das Geld oder der Beutel Koks könnten herausfallen. Mit fest gezurrter Kapuze trat er an den verschiedenen Cafés und Bars vorbei und spähte zwischendurch in manche von ihnen hinein. Manchmal starrte ein Kerl zurück und musterte ihn. Dann wandte Alex den Blick schnell ab und versuchte sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Er ging schnell. Er glaubte, die ganze Sache damit ebenso schnell hinter sich bringen zu können. In seinem linken Knöchel zog es beim Auftreten. Doch diesen Schmerz ignorierte er.
Am Ende des belebten Weges hielt er sich rechts und durchquerte eine Straße zwischen hohen, gelben Backsteingebäuden. Er folgte einer breiten Brücke, unter der zahlreiche Bahnschienen verliefen und bog noch einmal links ab. Von weitem sah er das riesige Gebäude des Hauptbahnhofes, an dessen Turmuhr die Zeiger kurz nach halb neun anzeigten. Das mulmige Gefühl in seinem Magen wurde größer. Er blieb kurz stehen und betrachtete den langen Bahnhof mit seinem geschwungenen Dach, das aus aneinandergereihten, gläsernen Hügeln bestand. Dann atmete er tief durch und führte seinen Weg fort. In seinen Taschen fühlte er das raue Papier, das um die vielen Koksbeutel gewickelt war. Dort krallte er seine Finger hinein und trat zum Haupteingang, über dem in weißen Lettern das Wort „Wandelhalle“ prangte. Alex wusste nicht genau, was er nun tun sollte. Also drängelte er sich durch die bunte Menschenmasse und entschuldigte sich, wenn er jemanden anrempelte.
Im Bahnhof roch es nach feuchten Jacken, Fast Food, süßem Gebäck und Parfüm. All die Düfte vermischten sich zu einem Geruchskomplex, der dem Bahnhof auch ohne Passanten genügend Leben eingehaucht hätte.
Alex hielt sich auf der rechten Seite, blieb manchmal stehen, blickte sich dann um und ging erst weiter, wenn er feststellte, dass er noch nicht am richtigen Platz angekommen war. Er passierte die kleinen Geschäfte und ging so lange geradeaus, dass er gar nicht mitbekam, wie er nach einiger Zeit schon am anderen Ende des Bahnhofs ankam. In der Ferne war das rauschende Quietschen eintreffender Züge zu hören. Alex blickte sich um. Er stolperte von links nach rechts und fühlte sich zunehmend auffälliger. Irgendwo glaubte er zwei Securities gesehen zu haben. Der Boden unter seinen Füßen war durch die Nässe und den Dreck glatt geworden. Mit seinen Turnschuhen musste er vorsichtig gehen.
Er irrte noch eine ganze Weile orientierungslos hin und her, bis er aufgab und in einer düsteren Ecke stehen blieb. Er lehnte sich gegen die kühle Wand und presste seine Lippen fest zusammen. Was tat er hier nur? Er hatte sich auf ein Spiel eingelassen, dessen Regeln er kaum kannte. Aber der Preis war hoch: Er musste Bens Leben schützen.
Seine Hände wurden kalt. Er musste an seine Entführung denken, bei der ihn die Kälte beinahe hätte erfrieren lassen. Als er seine Augen für einen kurzen Moment schloss, zogen die vielen Szenen, die sich in dem dunklen Verließ des Spaniers abgespielt hatten, wie ein schnelles Daumenkino durch seinen Kopf: die Schläge, der Durst, der Hunger, die Drohungen, die Kälte, die Misshandlung, die Dunkelheit, die Schmerzen, der Dreck
Weitere Kostenlose Bücher