Sommermond
übertönte seinen halben Verstand und löste ein Gefühl von Schwindel in ihm aus. Geistesabwesend fasste er in seine Taschen und tastete erst nach dem Geld, dann nach den Drogen. Dann versuchte er sich zu beruhigen. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Erst als der schrille Schrei in seinem Kopf allmählich abklang, schlug er seine Augen wieder auf. Mit Erfolg. Sein Puls hatte sich beruhigt und pochte nun gleichmäßig und ruhig in seinem Handgelenk. Noch im Sitzen warf er einen letzten Blick in den Spiegel. Er setzte jenes Grinsen auf, das er zuvor geübt hatte. Das, was ihn kalt und charakterlos aussehen ließ. Dann erhob er sich vom Bett und zog sich den grauen Pullover glatt. Der war so weit, dass er ihm bis über den Hintern reichte. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte sich Alex sicher in ihm. Gerade so, als wäre das bisschen Stoff eine schusssichere Weste, mit der er sich nun in ein kriegsbemanntes Gebiet begeben würde.
Erneut tastete er nach dem Geld und den Drogen. Dann nahm er sein Handy, stopfte es in die hintere Hosentasche und trat schließlich zur Tür. Er öffnete sie und setzte einen Fuß in den Rahmen, blieb dann aber noch einmal stehen. Nachdenklich drehte er sich um und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Er betrachtete das Regal mit seinen Büchern, dem Fotoalbum und dem Modellauto; schaute dann zum Bett, an dessen hinterem Ende sein zusammengelegtes T-Shirt lag, und beendete seinen visuellen Rundgang am Schreibtisch, auf dem alles ordnungsgemäß an seinem Platz stand. Das alles war ein Teil seines Lebens. Seines alten Lebens. Und wenn er jetzt ging, ließ er diesen Teil zurück. Das wusste er.
Er seufzte kaum hörbar, bevor er den Kopf senkte und in den Flur trat. Leise zog er die Tür hinter sich zu. In seinem Magen wuchs wieder das unangenehme Brennen.
Während seiner Entführung war er fest davon überzeugt gewesen, dass es nicht schlimmer kommen könnte. Doch es war schlimmer gekommen. Keine Gewalt der Welt war so grausam wie die Tatsache, einen Großteil seiner Seele zu verkaufen. Und das Ganze, um denjenigen zu schützen, den man liebte, während der einen für das letzte Arschloch hielt.
Alex presste seine Zähne zusammen. Er konnte spüren, wie seine Wangenknochen spitz hervorstachen. Dann setzte er einen Fuß vor den anderen und durchquerte den Flur - bedacht langsam. Gerade so, als würde er sein Schicksal mit der gewonnenen Zeit vor sich wegschieben können.
Er schritt zur Treppe, stützte sich am Geländer ab und humpelte hinunter. Treppen waren eine miese Angelegenheit für einen verstauchten Fuß. Am liebsten wäre er stehen geblieben, hätte sich umgedreht und wäre die Stufen wie ein Kleinkind heruntergekrabbelt. Doch bei diesem Gedanken bildete sich nur ein seltsamer Ausdruck auf seinem Gesicht, den er mit einem flüchtigen Kopfschütteln verscheuchte.
Unten angekommen musste er erneut reflexartig schlucken. Seine Kehle schrie nach Wasser. Doch er wollte keine weitere Zeit verschwenden und erst recht keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er hatte keine Lust, seinem Vater zu begegnen, während er sich in aller Ruhe ein Glas Wasser einschenkte und es trank, während sich ein Beutel Koks und eine Menge Kohle in seiner Tasche befanden. Also ignorierte er seinen Durst und schlich zum Eingangsbereich. So leise er konnte, fischte er seinen Schlüsselbund von der Kommode und zog schlichte Turnschuhe unter der Garderobe hervor. Während er sie anzog, warf er noch einen Blick in den großen Spiegel über der Kommode. Er streifte sich die Kapuze über den Kopf und setzte einen möglichst ernsten Blick auf. Er sah verändert aus und war sich sicher, dass Jo ihn im ersten Moment für einen Einbrecher halten würde, wenn er jetzt aus seinem Büro kommen und ihn sehen würde. Dieser Gedankenzug zwang Alex zu einem kurzen, ehrlichen Grinsen. Doch das verbot er sich sofort und zwang sich in die andere Rolle zurück. Erst als er wieder mit sich zufrieden war, wandte er sich vom Spiegel ab, streckte seine Hand nach der Türklinke aus und drückte sie herunter. Er trat nach draußen in die Dunkelheit und zog die Tür hinter sich zu. Dann fummelte er an seinem Schlüsselbund und öffnete seinen Wagen per Funk. Die Scheinwerfer blinkten bestätigend. Er schritt über den nassen Weg und riss die Fahrertür auf. In diesem Moment durchfuhr ihn ein unerwarteter Adrenalinstoß. Er befürchtete, dass Jo ihn gehört haben könnte und gleich
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