Sommermond
passende Verhaltensschablone und setzte sie sich auf. Es war Selbstbewusstsein.
„Und wenn er’s wäre?“, gab er ruhig zurück.
Iwan musterte ihn kritisch. Sergej leckte sich die Lippen.
„Dann hat er zumindest ‘nen guten Geschmack“, erwiderte Iwan trocken.
Alex traute seinen Ohren nicht. Sein Mund öffnete sich wie von selbst und ließ all die Fassungslosigkeit ungehindert aus ihm herausströmen. Er blinzelte irritiert und wartete auf weitere Worte; erwartete, dass die letzten nur die Einleitung zu einem herablassenden Kommentar gewesen waren. Doch es folgte nichts. Alex konnte es kaum glauben. Der Kerl, der ihn noch vor einer Stunde gewürgt hatte, und den er in seinem Kopf als dritten Klitschko-Bruder bezeichnete, war schwul. Diese Tatsache musste er erst einmal verarbeiten. Dabei zogen wirre Gedanken durch seinen Verstand, die ihn abermals daran erinnerten, was er noch bis vor wenigen Monaten von Schwulen gehalten und in was für eine simple Kategorie er sie bis dahin gesteckt hatte: In eine bunte Schublade voller hoher Stimmen, weiblicher Gesten und Langhaarperücken.
Alex musste einmal kräftig schlucken. Anschließend räusperte er sich und kratzte sich am Hinterkopf.
„Das muss dir nicht peinlich sein“, sagte Iwan und klopfte ihm kurz, aber fest auf die Schulter. „Wenn jemand geboren wird, sind die Würfel längst gefallen. Manche werden klein, andere groß. Manche hübsch, manche hässlich. Und manche werden schwul, andere nicht.“
Alex glaubte, sich verhört zu haben. Er schaffte es nicht, sich einen kritischen Gesichtsausdruck zu verkneifen. Bewegungslos stand er da und hörte die Worte des Russen in seinem Verstand widerschallen.
Als er nach einigen Sekunden wieder zur Besinnung kam, warf er einen flüchtigen Blick in Sergejs Richtung. Doch der schabte nur mit seinem Fuß im feuchten Sand und zog dabei schlangenförmige Linien. Offenbar wollte er nichts mit dem Thema zu tun haben. Vielleicht wagte er es aber auch nicht, Iwan zu widersprechen.
„Also!“, wurde Alex von Iwan aus den Gedanken gerissen.
Er zuckte kurz zusammen, bevor er zu dem großen Kerl aufsah und ihn erwartungsvoll anblickte. Iwan hielt das Kokspäckchen zwischen seinen Fingern und wechselte es von seiner linken in die rechte Hand. Dann warf er es in Alex‘ Richtung. Reflexartig riss dieser die Arme hoch und fing es auf. Ohne zu zögern stopfte er es zurück in seine Pullovertasche.
„Sollen wir dich noch zu deinem BMW zurückbringen?“, fragte Iwan.
Alex starrte ihn unsicher an. Die trügerisch freundliche Art verunsicherte ihn. Daran änderte selbst die Tatsache, dass er schwul war, nichts.
Dann nickte er.
Sergej reagierte sofort, als ob er nur auf die unausgesprochene Aufforderung gewartet hätte. Er riss die Fahrertür auf, setzte sich und klemmte seine Hände ums Steuer. Alex tauschte einen flüchtigen Blick mit Iwan. Der nickte daraufhin in Richtung des Wagens. Alex verstand. Er öffnete die hintere Tür und kletterte auf die Rückbank. Seine kalten Finger griffen nach dem Gurt und schnallten ihn an. Dann rutschte er in eine bequemere Position und lehnte sich gegen das weiche Polster. Iwan stieg vorn ein und zog die Beifahrertür zu. Kaum dass er saß, wandte er sich nach hinten zu Alex.
„Was ist eigentlich mit deinem Fuß?“, fragte er.
„Meinem Fuß?“, wiederholte Alex. „Warum?“
„Na“, meinte Iwan. „Du humpelst ganz schön.“
Alex hielt kurz inne und dachte darüber nach, wie Iwan nun schon zum zweiten Mal im Hellen statt im Dunkeln tappte. Natürlich unbewusst. Trotzdem beschlich ihn die Befürchtung, möglicherweise früher enttarnt zu werden, als ihm lieb war. Doch dann schüttelte er den Kopf. Das war absurd. Iwan fragte nur nach seinem Fuß. Nichts weiter.
„Bin umgeknickt“, gab er knapp zurück. „Ist verstaucht.“
„Und damit darfst du rumrennen?“, fragte Iwan.
Sergej startete den Motor. Er legte seinen rechten Arm um Iwans Kopfstütze, drehte sein Gesicht dabei nach hinten und fuhr rückwärts aus der schmalen Straße heraus - vorbei an exklusiven Immobilien und teuren Autos. Der Wagen surrte.
„Keine Ahnung, ob ich’s darf“, erwiderte Alex. „Ist mir ziemlich egal.“
Er sah, wie Iwan nickte.
„Du kämmst wohl gern gegen den Strich, was?“, fragte er.
Alex runzelte die Stirn. Er wusste, was Iwan meinte, hatte eine derartige Redewendung aber noch nie zuvor gehört. Vermutlich hatte Iwan sie aus dem Russischen übersetzt.
„Ich lass mich nur
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