Sommermond
war da nichts. Und diese Erkenntnis machte ihm noch mehr Angst. Wieso empfand er nichts? Wieso war da nur diese gottverdammte Leere?
Hallo? , klopfte er an seinen Verstand. Du hast Koks in der Tasche. Du m u tierst zum Dealer. Ist dir das klar?
Die Antwort war ja . Und doch nein .
Zwar wusste er, was gerade mit ihm passierte, ließ seinen Körper auch dementsprechend handeln und schraubte seine eigenen Bedürfnisse dabei zurück, doch im Grunde wusste er gar nichts. Er hatte vergessen, wer er war; hatte sich längst wieder verloren. Und plötzlich – ohne, dass er es verhindern konnte - stellte er sogar den Preis seines Handelns in Frage: War Ben all das wert?
Als sie am Bahnhof ankamen, hielt Sergej in einer Seitenstraße. Iwan befreite sich aus dem Gurt und wandte sich noch einmal zu ihm nach hinten.
„Morgen, zehn Uhr“, sagte er. „Genau hier. Und komm‘ ohne deinen BMW. Das ist ‘ne Nummer zu protzig.“
Alex starrte ihn an. Seine Gedanken hingen noch in Fetzen an seinem Hirngespinst.
„Ich werde nicht da sein“, fuhr Iwan fort. „Die nächsten zwei Wochen nicht. Aber Sergej und Jefrem sind in Ordnung. Die werden dir alles zeigen.“
Noch immer starrte Alex wortlos zurück. Und obgleich er wusste, dass Iwans Worte, ihn künftig den weniger sympathischen Russen zu überlassen, eine Hiobsbotschaft waren, schaffte er es nicht, sie zu verinnerlichen.
Ist Ben all das wert? , hallte es in seinem Verstand.
Iwan nickte noch einmal, bevor er ausstieg und die Tür hinter sich zuknallte. Daraufhin wandte sich Sergej nach hinten.
„Los! Aussteigen, scheiß Schwuchtel!“, zischte er.
Alex‘ Blick schweifte zur Seite. Nun war es Sergej, den er wie gebannt anstarrte und dabei nur beiläufig registrierte, wie hart dessen Worte waren. Sie waren der Beginn von dem, was ihn die nächsten Wochen erwartete. Ohne Iwan brach sein Schutzwall zusammen.
Geistesabwesend streckte er seine Hand zum Türgriff und drückte ihn herunter. Er löste seinen Blick von Sergej und stieg aus. Als er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, startete Sergej den Motor, jagte an ihm vorbei, wendete viel zu schnell und fuhr in eine andere Richtung.
Alex blieb auf der verlassenen Straße zurück. Der Regen prasselte in sein Gesicht, einzelne Tropfen blieben an seinem Kinn hängen. Er schob sich die Kapuze über den Kopf und blieb wie angewurzelt stehen.
Ist Ben all das wert? , fragte ihn seine innere Stimme nun schon zum dritten Mal.
Alex schob seine Hände in die Taschen. Er starrte vor sich ins Leere. Seine Sicht verschwamm im kühlen Regen. Er leckte sich die Tropfen von den Lippen und atmete anschließend einmal tief durch. Sein Atem kondensierte in der Luft. Dann blickte er nach oben und sah wieder zum Mond. Dabei erinnerte er sich zurück an den Tag des Unfalls. Daran, wie Ben in einen Kranken- und er in einen Polizeiwagen geschoben worden waren. An jenem Abend hatte er ebenfalls den Mond betrachtet und ihn als eine Art Symbol ihrer Beziehung gesehen. Das tat er noch immer. Deshalb wusste er, dass die Sichel bald verschwinden und ein schwarzes Loch hinterlassen würde. Aber dann würde der Mond wieder wachsen und die Leere überdecken und irgendwann so prall am Himmel leuchten, dass die Leere nur noch einem Teil der Vergangenheit angehörte.
Und das war es, was seine Frage schließlich beantwortete: Ja, Ben war es wert.
15
Ben stand vor dem glasumsäumten Audimax der Flensburger Universität. Eigentlich begannen die Vorlesungen erst Anfang April und damit in zwei Wochen. Doch einer der Professoren seiner Fachrichtung hatte ein paar Übungsseminare außerhalb der regulären Vorlesungszeit angeboten. Ben war froh, so weit genesen zu sein, dieses Angebot annehmen zu können.
Seit einer Viertelstunde wartete er auf seinen besten Freund Max. Sie hatten ausgemacht, sich hier, am Audimax, zu treffen. Diese Prozedur hatte die beiden schon alle bisherigen Semester begleitet.
Auf eine seltsame Art und Weise war Ben aufgeregt, fühlte sich fremd und unbeholfen. Er kam sich vor wie zu Beginn seines Studiums, als er noch jünger gewesen war und sich der Studienbeginn wie ein bevorstehender, neuer Lebensabschnitt angefühlt hatte. Dabei war genau das Gegenteil der Fall. Mittlerweile war er 22 und ihm stand das fünfte und damit vorletzte Semester bevor. Danach würde er noch seinen Master machen. Vielleicht ja in Hamburg. Und dann wäre er fertig und stände dem Arbeitsmarkt mit guten Vorrausetzungen zur Verfügung.
Ben zog den
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