Sommermond
ungern herumkommandieren“, antwortete er. „Schon gar nicht von Leuten, die denken, sie wüssten alles besser.“
Iwan schwieg einen Moment. Sergej schlug kräftig links ein und fädelte sich rückwärts auf die Elbchaussee. Dann beschleunigte er und passte sich dem Tempo der Autos vor ihm an. Alex wusste, dass sie in wenigen Minuten an der Villa vorbeifahren würden. Das bescherte ihm ein unangenehmes Gefühl, das einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Hilflosigkeit entsprang.
„Du meinst Leute wie deinen Vater?“, fragte Iwan.
Alex blickte nach vorn. Doch Iwan starrte stur vor sich auf die Fahrbahn. Es regnete noch immer. Sergej schaltete die Scheibenwischer ein. Quietschend kratzten sie übers Glas.
Alex dachte noch eine Weile über seine Antwort nach, bevor er erst wortlos nickte und anschließend zurückgab: „Vor allem meinen Vater.“
Iwan erwiderte nichts. Alex war sich nicht einmal sicher, ob er ihm noch zugehört hatte. Doch statt sich weiter mit dieser unsicheren Spekulation zu beschäftigen, begann auch er aus dem Fenster zu starren. Kaum einen Moment später zog die weiße Landhausvilla an ihnen vorbei. Sie wirkte mehr grau als weiß, was an den getönten Scheiben des Wagens lag. Als sie weiterfuhren, reckte er seinen Hals nach hinten - wie ein kleines Kind, das etwas zum ersten Mal gesehen hatte und es so lange wie möglich im bildlichen Gedächtnis abspeichern wollte.
Alex starrte noch so lange zur Einfahrt der Villa, bis sie Eins mit der Dunkelheit wurde. Dann seufzte er und wandte sich zum anderen Seitenfenster. Durch das blickte er auf die Elbe, auf deren Oberfläche der Regen ein raues Muster malte. Der schwache Mond stand schräg am Himmel. Noch zwei, vielleicht drei Tage dann würde er gänzlich verschwunden sein. So lange, bis er zu neuem Leben erwachte.
Iwan und Sergej begannen sich wieder auf Russisch zu unterhalten. Geistesabwesend lauschte Alex den seltsam klingenden Worten. Doch irgendwann liefen sie nur noch leise nebenher – wie Vogelgekreische im Frühling, das ständig da war; das man aber nur hörte, wenn man sich darauf konzentrierte.
Alex hatte andere Sorgen. Während er auf die vorbeiziehende Elbe starrte, dachte er an Ben und ihren letzten Streit. Im Streit auseinanderzugehen erwies sich als mieses Gefühl. Noch mieser war allerdings, dass er sich nicht bei Ben melden durfte. So konnte er sich nicht für sein Verhalten entschuldigen. Zu gern hätte er dem Dunkelhaarigen gesagt, was los war. Doch das konnte er nicht. Mittlerweile hatte er es schon zu weit geschafft. Sogar Oberkommissar Wagner hatte er abwimmeln können. Niemand schien etwas zu ahnen und Alex‘ Verhalten einzig und allein auf seinen Charakter zurückzuführen. Traurig, aber wahr. In seinem bisherigen Leben hatte er keinen besonders guten Eindruck bei seinen Mitmenschen hinterlassen. Da war es klar, dass sie ihn für abgedreht hielten. Eigentlich konnte er froh darüber sein. So ließen ihn Jo und die Bullen in Ruhe. Trotzdem schmerzte ihn diese Erkenntnis auf eine ungewohnte Art und Weise. Es war, als ob er zum ersten Mal begriff, dass es sich nicht immer gut anfühlte, auf sich allein gestellt zu sein; dass etwas fehlte, wenn sich die Mitmenschen nicht um einen sorgten. Diese fehlende Fürsorge war er zwar von Jo gewohnt, doch in diesem Moment beschäftigte ihn das Thema mehr als je zuvor.
Die Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe und liefen in wirren Konturen an ihr herunter. Gedankenverloren folgte Alex einer der Linien. Dabei spürte er, wie sich wieder die altbekannte Leere in ihm ausdehnte. Die Leere, die ein Signal seines Körpers war: Bis hier hin und nicht weiter. Sie machte deutlich, wie überfordert er war. Er schaffte es nicht mehr, all die Erlebnisse und Eindrücke in seinem Kopf zu ordnen. Seine Emotionen waren wirr, seine Gedanken chaotisch. Wenn er an die Entführung dachte, vermischten sich die Bilder mit denen des Streits zwischen ihm und Ben, durchtränkt von Erinnerungen an das Dealen am Bahnhof, durchzogen von imaginären Szenen der nächsten Wochen und begleitet von der ständigen Angst, der Spanier könnte Ben etwas antun.
Alex musste stark schlucken. Sein Hals war trocken. So trocken, dass ihn nicht einmal das Verlangen nach einer Zigarette einholte. Er starrte auf die schmale Mondsichel am dunklen Firmament und schloss dann die Augen. Dabei versuchte er Emotionen in sich wachzurütteln. Einfach irgendetwas – sei es Selbstzweifel oder Wut. Doch außer Angst
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