Sommermond
Reißverschluss seiner Jacke höher. Auch Mitte März war es noch kalt. Ein kühler Wind fegte über den Asphalt, prallte an den Gebäudewänden ab und wirbelte um ihn herum. Seine Hände drückte er in die körperwarmen Taschen seiner Jeans und zog seine beige Umhängetasche dabei etwas zurecht.
Alex hatte sich noch immer nicht gemeldet. Ben hatte ihn noch einige Male zu erreichen versucht. Doch der Blonde schien stur zu sein. So hatte Ben letztendlich aufgegeben und sich abgelenkt, indem er viel gelernt und sich mit Max getroffen hatte. Der war nämlich der gleichen Meinung wie er: Alex war an der Reihe, sich zu melden. Ben hatte derweilen genug in den Blonden investiert. Natürlich änderte diese Tatsache nichts daran, dass er sich um den Blonden sorgte. Dennoch durfte er sein eigenes Leben nicht vernachlässigen und musste versuchen, zurück in den Alltag zu finden. Alex fehlte ihm. Sehr sogar. Doch was sollte er noch tun? Er konnte nicht zurück nach Hamburg. Zum einen fehlte ihm die Zeit dafür, zum anderen hatte ihm Oberkommissar Wagner deutlich davon abgeraten, solange die Ermittlungen noch liefen und die Kerle, wie der Spanier und Diego, auf freiem Fuß waren.
Ben drückte seinen Fuß auf eine herumliegende Plastiktüte und schob sie hin und her. Dann warf er einen Blick auf die Armbanduhr. Als er wieder aufschaute, war Max noch immer nirgends zu sehen. Das war eine der negativen Eigenschaften seines besten Freundes: Er kam ständig zu spät. Aber mit der Zeit gewöhnte man sich daran.
Er nahm seine rechte Hand aus der Tasche und zog seinen MP3-Player dabei heraus. Er wickelte das Kabel der Ohrenstöpsel vom schwarzen Plastik und steckte sie sich in die Ohren. Dann drückte er auf Play und hörte einen Song von Clueso . Leise seufzte er auf. Das Lied stimmte ihn nachdenklich. Einen kurzen Moment dachte er sogar darüber nach, die Stöpsel wieder aus seinen Ohren zu ziehen. Doch letztendlich fügte er sich der Sentimentalität und ließ seine Gedanken abschweifen.
Egal wer kommt,
egal wer geht,
egal, es kommt nicht darauf an
Ich glaube nichts,
ich glaub an dich,
glaubst du an mich,
ich glaub ich auch
Ich frage mich,
ich frage dich,
doch frag ich nicht,
fragst du dich auch
Musik war ein wichtiger Bestandteil in seinem Leben. Ganz früher hatte er es mal mit Klavierspielen versucht. Doch sein Klavierlehrer hatte klassische Stücke bevorzugt und war nicht auf Bens Wünsche eingegangen. Also hatte er das Hobby geschmissen und sich stattdessen der Gitarre gewidmet. Das Spielen auf ihr hatte er sich selbst beigebracht. So konnte ihm niemand in seinem Stil herumpfuschen. Er spielte ganz gut. Das war zumindest das, was seine Freunde behaupteten. Und er spielte gern – auch wenn er das in letzter Zeit, bedingt durch das aufwändige Studium, vernachlässigt hatte. Trotzdem war Musik etwas, das in sein Leben gehörte. Immer, wenn man ihm die berüchtigte Frage stellte, was er mit auf eine einsame Insel nehmen würde, stand Musik für ihn an erster Stelle. Seiner Meinung nach brauchte sie jeder Mensch. In der recht verkorksten und abgestumpften Gesellschaft war sie noch eine der wenigen Mittel, Gefühle offen und ehrlich auszudrücken und sie mit anderen zu teilen.
So erging es auch ihm in jenem Moment. So sehr er seine Gefühle zu Alex auch zu unterdrücken versuchte, kehrten sie unter der melancholischen Melodie des Songs doch zu ihm zurück und entfachten all das, was er in der letzten Woche in eine Schublade gestopft, sie zugemacht, abgeschlossen und den Schlüssel vorerst weggeworfen hatte.
Leichter als leicht,
das ist nicht weit von hier zu dem,
was noch nicht war
Suchst du mich,
dann such ich dich,
ist die Versuchung groß genug
Ich lass es zu,
komm lass es zu,
komm lass es uns noch einmal tun
Ich geb' nicht auf,
gehst du mit mir,
gehst du mit mir,
mit auf uns zu
Fällt dir nichts ein,
komm leg nicht auf,
komm reg dich auf und komm zur Ruh
Dann begann der Refrain. Ben wollte gerade die Augen schließen, um sich geistig in all den schmerzenden Erinnerungen zu ertränken, als ihm jemand die Stöpsel aus den Ohren zog. Irritiert wandte er sich um und fand sich daraufhin unmittelbar vor Max wieder.
„Na, Tagträumer!“, wurde er grinsend begrüßt.
Ben verdrehte die Augen und gewann dadurch etwas Zeit, von seiner elegischen Insel zurück ans Festland zu schwimmen. Die Musik drang noch wie ein heiseres Flüstern mit schwachem Puls aus den herunterhängenden Ohrenstöpseln. Ben nahm
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