Sommermond
ihn. Ben aber blieb stehen. Er wollte sein Bein bewegen, war aber mit einem Mal wie gelähmt.
„Was is’n, Alter?“, fragte Max sofort.
In Ben brach plötzlich ein emotionales Chaos aus. Bis eben hatte er noch damit umgehen können. Doch plötzlich, als er an die Polizei und Jos Worte vom letzten Telefonat dachte, überkam ihn ein brennender Angstschauer. In seinem Magen breitete sich Übelkeit auf und zog von dort aus bis in seine Kehle.
„Ich glaub‘ … Ich…“, stammelte er und fasste sich mit einer Hand an den Hals. Er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Max trat einen Schritt auf ihn zu. Er sah ungewohnt besorgt aus.
„Schon okay“, nuschelte Ben und machte eine abtuende Geste. „Mir is‘ nur ‘n bisschen schlecht.“
„Kann ich irgendwas machen?“, fragte Max.
Ben schüttelte erst heftig den Kopf, hielt dann aber kurz inne und nickte anschließend.
„Ja“, sagte er. „Kannst du.“
Die Fahrstuhltüren starteten schon ihren dritten Versuch sich zu schließen. Doch Max schob jedes Mal einen Fuß dazwischen.
„Und was ?“, fragte Max.
„Geh du schon mal vor!“, entgegnete Ben. „Ich komm‘ später nach. Ich brauch‘ mal eben ‘ne Pause.“
Dass er von einer Auszeit sprach, obwohl er bislang noch nicht mehr getan hatte, als vom Audimax zum Hauptgebäude zu gehen, kam ihm dämlich vor. Trotzdem spürte er, dass er tatsächlich etwas Zeit brauchte. Zumindest nach diesem Gespräch. Das Unigebäude wirkte in jenem Moment wie ein Gefängnis auf ihn. Ein Gefängnis, das seine Gedanken wegsperren und durch unwichtigere ersetzen wollte.
„Aber du wolltest doch so dringend hierher“, meinte Max.
„Ja, sorry…“, entschuldigte sich Ben. „Vielleicht schaff‘ ich es ja zum zweiten Block. Aber ich muss, glaub‘ ich, erst mal was essen. Außerdem hab‘ ich Schmerzen.“
Letzteres war zwar gelogen, erschien ihm aber als passender Abschluss seiner wirr formulierten Ausreden. Über Schmerzen ließ sich nicht streiten. Die OP war noch nicht lange her und so konnte er plötzlich auftretende Schmerzen als perfekten Vorwand nehmen, der unangenehmen Situation zu entfliehen.
„Dann komm‘ ich mit“, sagte Max und wollte aus dem Fahrstuhl gehen.
Doch Ben schob ihn sofort zurück.
„Du schreibst mal schön alles mit!“, befahl er. Als er merkte, dass er etwas zu harsch geklungen hatte, ließ er ein flehendes Lächeln folgen. „Bitte! Damit würdest du mir ‘nen echten Gefallen tun! Außerdem wartet Isa bestimmt oben auf dich.“
Max seufzte laut.
„Okay“, sagte er dann. „Ausnahmsweise.“
„Danke“, entgegnete Ben und stürzte sich in eine flüchtige Umarmung. „Du bist ein echter Schatz!“
Max drückte ihn mit sanfter Gewalt von sich weg.
„Hör bloß auf!“, sagte er dazu und spielte drohend. „Sonst überleg ich’s mir noch mal anders.“
Ben nickte und stolperte rückwärts aus dem Fahrstuhl.
„Danke, Mann“, wiederholte er sich. „Ehrlich. Ich schuld‘ dir was.“
„Ja, ja…“, tat Max ab, drückte den Knopf der gewünschten Etage und lehnte sich anschließend gegen die Fahrstuhlwand.
„Bis dann!“, rief Ben noch.
Doch da schoben sich die Türen bereits zu. Max‘ und sein Blick hingen noch einen Moment freundschaftlich aneinander, bevor Ben sich abwandte. Er stellte sich an die Wand neben dem Fahrstuhl und atmete tief durch. Sofort wich die gespielte Euphorie von ihm und hinterließ ein Gefühl von Schmerz. Innerem Schmerz.
Es passte nicht zu ihm, freiwillig auf ein Seminar zu verzichten. Doch in Anbetracht der Umstände, in denen zurzeit nichts normal war, erklärte er sich zwar für schuldig, aber auch für unzurechnungsfähig.
Bis zu dem Gespräch mit Max hatte er sich gut auf das neue Semester vorbereitet. Er hatte sich sogar daran gehalten, sich zu schonen, und war vor zwei Tagen noch einmal zum Arzt gegangen. Sein Zustand hatte sich deutlich verbessert. Nur die Rippenfraktur würde noch eine Weile brauchen, bis sie gänzlich verheilt war. Bis dahin musste er auf jegliche Form von Sport verzichten. Aber das war machbar. Er hatte sich auf den heutigen Tag und die damit einhergehende Ablenkung gefreut und sich noch am Vorabend mit dem anstehenden Seminarthema beschäftigt. Doch eben, vorm Fahrstuhl, war ihm mit einem Mal alles so unwichtig erschienen. Plötzlich hatte er sich beengt gefühlt. Fast, als ob er sich zwanghaft an sein altes Leben heften würde und sich damit in eine Rolle zu drängen versuchte, in die
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