Sommermond
ging auf sein Zimmer. Dort blieb er einen ganzen Moment orientierungslos stehen, bevor ihm einfiel, was er vorgehabt hatte. Er trat zum Nachtschrank, band sich seine Armbanduhr um und warf gleichzeitig einen Blick auf das silberne Ziffernblatt. Es war kurz nach acht. In einer Stunde würde Max ihn abholen. Er dachte über diese Tatsache nach, doch statt dem erwarteten Gefühl, flüchten zu wollen, breitete sich Vorfreude in ihm aus. Er freute sich darauf, mal wieder unter fremde Menschen zu kommen, was zu trinken und zu tanzen. Damit konnte er sich einen Abend lang vom Studium ablenken, was wichtig war, nachdem sein Ehrgeiz in letzter Zeit noch einmal radikal gewachsen war. Fast jede freie Minute verbrachte er mit Büchern und Studienunterlagen. Max hatte sogar einmal behauptet, sein Verhalten wäre krankhaft. Doch das störte Ben nicht. Er hatte ein klares Ziel vor Augen, das er anstrebte. Außerdem lenkte ihn das konsequente Lernen ab. Denn dadurch, dass er seine Aufmerksamkeit bis zum Erschöpfungszustand jeglichen Hausarbeiten widmete, musste er nicht die ganze Zeit an Alex denken. Das war nämlich seiner Meinung nach das , was krankhaft war. Manchmal glaubte er, gefühlstechnisch in die Pubertät zurückkatapultiert worden zu sein. Seine Gefühle gingen mit ihm durch, sein Verstand redete wirr auf ihn ein und der einzige Ausweg aus diesem Desaster war Ablenkung.
Vor ein paar Tagen hatte er noch einmal mit Oberkommissar Wagner telefoniert. Der Polizist hatte ihm mitgeteilt, dass ein Brief zu ihm unterwegs wäre. Auf der Vorladung sollte der Termin stehen, zu welchem er im Flensburger Polizeirevier auftauchen und seine Aussage schriftlich abgeben musste. Mittlerweile war der Brief angekommen und lag aufgefaltet auf seiner Fensterbank. Der Termin war in einer Woche. Bei diesem Gedanken jagte ein ungutes Gefühl durch seinen Magen. Er hatte keine Lust, den ganzen Unfall ein weiteres Mal Revue passieren zu lassen. Er hatte keine Lust, über Alex zu sprechen und sich unangenehmen Fragen zu stellen. Er wollte die Vergangenheit einfach ruhen lassen, doch das schien im Laufe der Ermittlungen nicht möglich zu sein. Dabei glaubte er ohnehin nicht daran, dass die Polizei die Bande ausfindig machen konnte. Alex hatte es mit seiner Behauptung auf den Punkt gebracht. Der Clan war zu groß, zu verstrickt. Er hatte recht damit, dass irgendwo immer irgendwer übrig bleiben würde, der sich dann irgendwann an einem rächte. Deshalb hatte er längst eingesehen, dass es falsch gewesen war, Alex in den Rücken zu fallen. Alex hatte ihm vertraut und er hatte dieses Vertrauen missbraucht, was nun dazu führte, dass – was auch immer Alex aktuell trieb – er niemals mehr die Chance haben würde, dieses Vertrauen wieder aufzubauen. Er würde niemals erfahren, was seit ihrem Streit in Alex‘ Kopf vorging. Es war vorbei. Einfach vorbei, und er war bemüht, es dabei zu belassen. Doch in seinem Kopf war es nicht vorbei. In seinen Gedanken lief der Film weiter, mit einem Untertitel aus Sorgen und Verzweiflung.
Als er sich dabei ertappte, wieder in einem tiefen Morast aus Gedanken zu versinken, hielt er inne und versuchte sich abzulenken, indem er an die anstehende Party dachte. Auch dachte er an Nick. Er rechnete damit, dem Schwarzhaarigen zu begegnen, denn dieser ließ sich keine Party entgehen. Doch Ben wusste nicht, wie er seinem Exfreund nach ihrer letzten Auseinandersetzung gegenübertreten sollte. Er wusste nur eines: Die Begegnung würde eskalieren und in neuem Streit ausarten. Da war er sich sicher.
Ben verweilte neben seinem Nachtschrank. Erst machte er die Bewegung, sich aufs Bett zu setzen, blieb dann aber stehen und trat stattdessen zum Fenster. Draußen war es dämmrig, aber nicht finster. Das tiefe Blau verlief am Rande in blassere Farben. Dazwischen hingen dunkle Wolken wie Rauch am Himmel. Doch bevor Ben sich erneut in schwermütigen Gedanken verfing, griff er nach dem Band des Rollos und zog es surrend herunter. Das Gleiche tat er am anderen Fenster. So hatte er das Gefühl, seine aufkommende Melancholie einfach auszusperren. Und das funktionierte tatsächlich. Kaum dass die trübe Abendstimmung hinter weißem Stoff verborgen lag, fühlte er sich besser.
Er wandte sich um und hielt Ausschau nach seinem Handy. Als er es nirgends sehen konnte, ging er zum Bett, hob die Decke an, riss das Kissen zur Seite und wühlte anschließend in den Taschen einiger am Boden liegenden Klamotten. Dann schritt er zu seiner
Weitere Kostenlose Bücher