Sommermond
persönlich zu tun. Er wollte dem Mörder seines Bruders in die Augen sehen, während er starb.
Ein kalter Schauer jagte über seinen Rücken, ein Brennen zog durch seinen Magen. Erneut wurde ihm bewusst, auf was er sich da eingelassen hatte. Er war kriminell geworden. Einen kurzen Moment dachte er sogar darüber nach, dass es vielleicht besser gewesen wäre, die Polizei rechtzeitig hinzuzuziehen. Doch diesen Gedanken verwarf er schnell wieder. Jetzt war es ohnehin zu spät. Er musste die angefangene Sache zu Ende bringen. Er hatte keine andere Wahl. Es war zu spät, um jetzt den Helden zu spielen. Er konnte nur hoffen, dass alles gut ging, und dass er - nachdem alles überstanden war - sein Leben zurückerhalten würde. Ihm fehlte die Kraft, um danach noch weiterzumachen. Er wollte sein Leben zurück – auch wenn es ihm ohne Ben sinnlos erschien. Er war niemand, der schnell aufgab oder in Selbstmitleid ertrank. Er hatte schon Schlimmeres überstanden.
Nach seinem ersten Streit mit Ben war er kurz davor gewesen, sich aufzugeben. Später war ihm jedoch bewusst geworden, dass es nicht seine Art war, alles hinzuschmeißen. Er würde weiterkämpfen. So lange, bis er wieder mit beiden Beinen im Leben stehen und bei einem Blick auf die Vergangenheit erkennen würde, dass er Stärke bewiesen hatte. Dann würde er stolz auf sich sein, weil er bis zum Ende durchgehalten und Bens Leben beschützt hatte. Er wusste, dass ihn die meisten für egoistisch hielten. Doch das war er nicht. Er war kein Egoist. Nicht mehr.
Er schritt zur Zimmertür und trat in den Flur. Als er die Tür hinter sich schloss, fiel sein Blick auf Bens Zimmer. Er presste die Lippen zusammen und wandte sich ab. Er ging zur Treppe und schritt die Marmorstufen hinunter. Zwar hatte er kaum Appetit, wollte aber trotzdem etwas frühstücken. Die letzten Tage hatte er kaum gegessen. Da war es kein Wunder, dass ihm schlecht war. Er hoffte, dass eine Kleinigkeit zu Essen seiner ständigen Übelkeit ein Ende bereiten würde.
Vor dem Esszimmer blieb er stehen und horchte an der Tür. Er hörte niemanden reden. Also schob er sie auf und trat ein. Ben und Jo saßen am Esstisch. Jo spähte über die Zeitung in seine Richtung. Die Brille, die er nur zum Arbeiten und Lesen trug, machte ihn plötzlich älter. Er wirkte erschöpft. Vielleicht hatte auch er schlecht geschlafen. Ben saß vor einem Teller mit einem Croissant. Wie immer. Alex musste sich beherrschen, nicht zu schmunzeln, als er sich daran erinnerte, wie sie im Februar gemeinsam im Hotel gefrühstückt hatten, nachdem Jo Ben aus der Villa geworfen hatte. Damals hatte Alex ihm extra Croissants vom Bäcker besorgt.
„Guten Morgen“, begrüßte Alex die beiden und versuchte neutral zu klingen.
„Morgen“, entgegnete Jo.
Alex‘ Blick fiel auf Ben. Der Dunkelhaarige ignorierte ihn. Er schaute nicht einmal von seinem Teller auf. Er sah verschlafen aus. Seine Haare waren zerzaust, seine Augen wirkten trüb. Alex seufzte kaum hörbar, schritt dann zu seinem Platz und setzte sich. Er schenkte sich etwas Wasser ein und griff nach einem Brötchen. Dann nahm er sein Messer und schnitt es auf. Das kratzige Geräusch, das dabei entstand, war das Einzige, was den Raum füllte. Die Stimmung war erdrückend. Alex räusperte sich und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Er blickte abwechselnd von Jo zu Ben. Doch die beiden waren in ihre eigene Gedankenwelt vertieft. Alex belegte sein Brötchen mit einer Scheibe geräuchertem Lachs und biss einmal kräftig ab. Dabei rieselten ein paar Körner auf seinen Teller. Ben sah zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich. Alex wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, wich Bens Blick aber keine Sekunde aus. Er konnte aus seinen Augen lesen, wie verletzt er war. Deshalb tat es ihm plötzlich leid, was er ihm gestern an den Kopf geworfen hatte. Natürlich wünschte er sich nicht, dass Ben bei dem Unfall gestorben wäre. Ansonsten hätte er in den letzten Monaten nicht sein Leben für ihn riskiert. Das musste Ben eigentlich klar sein. Doch darum ging es wohl nicht. Es ging darum, dass er es vor Bens Augen mit einem anderen Kerl getrieben hatte – bewusst und provokant. Das war es, was Ben so kränkte.
Alex trank sein Glas leer und stellte es anschließend laut vor sich ab. Jo warf ihm einen kurzen Blick zu, widmete sich dann aber wieder der Zeitung und nippte zwischendurch an seinem Kaffee. Alex legte sein angebissenes Brötchen vor sich ab und schob seinen Teller von sich weg. Ihm
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