Sommermond
dir nicht böse. Ben kann ein ziemlicher Sturkopf sein. Ich kann mir sogar vorstellen, dass du ihn mit allen Mitteln aus deinen Problemen raushalten wolltest, dir das aber nicht recht gelungen ist.“
Alex musste kurz auflachen. „Sie kennen Ihren Sohn echt gut.“
„Natürlich kenne ich meinen Sohn“, erwiderte sie. „Ich kenne ihn sogar so gut, dass ich ihm vertraue. In jeglicher Hinsicht.“
„Was meinen Sie damit?“, hakte Alex nach und wischte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht.
„Ich meine damit, dass er sich seine Freunde sehr genau aussucht. Und wenn er dich so liebt, wie mir das zurzeit scheint, dann wird das seine Gründe haben.“ Sie lächelte, auch wenn es etwas aufgesetzt wirkte. „Du bist kein schlechter Mensch, Alex“, sagte sie und benannte ihn dabei so, als ob sie ihn schon länger kannte. „Eine Mutter sieht so etwas.“
Alex senkte seinen Kopf. Er wurde nachdenklich. Als er wieder aufsah, nickte Bens Mutter, als wollte sie ihre letzten Worte damit bekräftigen.
„Danke“, brachte Alex daraufhin heiser hervor.
„Dafür nicht“, gab sie verständnisvoll zurück.
Alex blickte an ihr vorbei ins Leere. Viele Gedanken kreisten durch seinen Kopf. Als er bemerkte, dass sie sich zum Gehen umwandte, hielt er sie noch einmal am Arm zurück.
„Das hier …“, flüsterte er und blickte einmal kurz von links nach rechts, „… das bleibt unter uns, okay?“
Bens Mutter nickte lächelnd. „Ich werde niemandem verraten, dass du eigentlich ganz nett sein kannst. Versprochen.“
Alex legte seine Stirn in Falten. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, doch fehlten ihm die richtigen Worte dafür. Eigentlich war alles gesagt. Schließlich nahm er seine Hand von ihrem Arm und nickte als Antwort. Als sie sich umdrehte und ging, blickte er ihr noch eine Weile nachdenklich hinterher. Ihre Worte hatten ihn zutiefst berührt. Sie hatte ihm eine ehrliche Zuneigung entgegengebracht, die mit nur wenigen Worten all die Aufmerksamkeit ausglich, die Ben dafür von Jo erhalten hatte. Jetzt wusste Alex, dass er sich in Bens Mutter getäuscht hatte. Sie war nicht der Typ Mensch, für den er sie gehalten hatte. Sie war wortgewandt und schien zu wissen, was sie wollte. Vermutlich unterdrückte sie diese starke Eigenschaft nur vor ihrem Mann, um ihm uneingeschränkt das Rollenbild vorzuleben, das er von ihr verlangte.
Alex fühlte sich noch einen ganzen Moment wie gelähmt, bevor er sich endlich zu seinem Zimmer umdrehte und es betrat. Er ließ die Tür geöffnet und schritt zu seinem Schrank, um sich frische Klamotten zu holen. Dann verließ er den Raum wieder und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Dort befreite er sich aus seinen Klamotten und begab sich unter die Dusche. Erschöpft legte er seinen Kopf in den Nacken und genoss die wohltuende Wärme, in die das Wasser ihn einhüllte. Sein Kopf war leer. Er schämte sich nicht einmal für den Auftritt vor Bens Mutter. Er vertraute ihr und war sich sicher, dass sie seinen Heulanfall für sich behalten würde.
Eine ganze Weile genoss er das angenehme Nass, bevor er seine Hand nach dem Shampoo ausstreckte und etwas Creme aus der Tube drückte. Anschließend schäumte er seine Haare damit ein. Als er seine Hand wieder herunternahm, wagte er einen Blick auf ihre Innenfläche. Dort zogen sich blitzförmige Narben entlang, die ihn an jenen Tag erinnerten, an dem er in Folge eines heftigen Streits mit seinem Vater die Beherrschung verloren und daraufhin seinen Spiegel zertrümmert hatte. Vermutlich würden die Narben bleiben. Doch sie waren nichts gegen jene, die er in seinem Inneren trug.
Alex seufzte. Er wusch sich den Schaum vom Körper und stellte das Wasser schließlich aus. Dann schob er die gläserne Tür zur Seite und trat mit seinen nassen Füßen auf die kalten Fliesen. Von dort aus streckte er sich nach einem Handtuch, hüllte sich darin ein und trocknete sich ab. Anschließend schlüpfte er in die frischen Klamotten. Als er sich bückte, um sich die Socken überzuziehen, entdeckte er einen Tropfen getrocknetes Blut auf den Fliesen. Gedankenverloren streckte er seinen Finger danach aus und fasste darüber. Er wusste, dass es sein Blut war. Das Blut, das aus den Wunden seiner Hand geströmt war, als er versucht hatte, die Scherben aus den Verletzungen zu spülen. Der Anblick dieses Flecks weckte zwiespältige Gefühle in ihm. Zum einen erinnerte er ihn daran, wie Ben und er sich an genau dieser Stelle zum ersten Mal gewaltig nahe
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