Sommermond
Also legte er die Erinnerung an Sam beiseite und konzentrierte sich stattdessen darauf, einigermaßen bei Verstand zu bleiben. Das war nicht leicht – nach allem, was geschehen war.
Schließlich schritt er zur Tür und verließ sein Zimmer. Er war dankbar dafür, niemanden auf dem Flur zu treffen. Die Begegnung mit Bens Mutter hatte ihm vorerst gereicht und jetzt, wo sein Verstand sich ein wenig von all den Strapazen erholt hatte, schämte er sich doch für den psychischen Zusammenbruch vor eben dieser. Er zeigte nur ungern Gefühle, tat dies meist nicht einmal vor sich selbst. Dass er grundlos vor Bens Mutter geheult hatte, war ihm unerklärlich. Deshalb schob er sein Verhalten auf geistige Überforderung und die Erinnerung an seine Mutter, die ihm diese sonderbare Situation beschert hatte.
Als ob er mit sich selbst kommunizierte, schüttelte er ungläubig seinen Kopf, während er die helle Marmortreppe hinunterging. Unten angekommen horchte er kurz auf, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand von seinem Vorhaben abhalten konnte. Dann trat er zum Eingangsbereich, riss seine Jacke von der Garderobe und zog sie über. Seinen Schlüsselbund stopfte er in die rechte Tasche. Nachdem er noch schnell in seine Schuhe geschlüpft war, öffnete er die Haustür und ging nach draußen. Innerhalb kürzester Zeit war es dunkler geworden, der Regen umso stürmischer.
Alex streifte sich die Kapuze über den Kopf und zog sie stramm. Der kalte Regen traf auf sein Gesicht und ließ ihn blinzeln.
„Immer noch besser als Schnee …“, murmelte er zu sich selbst.
In langsamen Schritten trottete er von dem Grundstück, überquerte die Straße und marschierte die lange Treppe zur Elbe hinunter. Teilweise lugte etwas dunkelgrünes Gras unter den geschmolzenen Schneemassen hervor. Der Großteil des Bodens hatte sich allerdings in eine schlammige Masse verwandelt, in der man teilweise tief versank. So stapfte Alex durch den Matsch und arbeitete sich bis zum Elbufer vor. Dort blieb er stehen und steckte seine Hände in die Taschen. Schon nach diesem kurzen Weg hatte die Kälte seine Haut derart betäubt, dass er den Regen kaum noch spürte.
Er blickte auf das Wasser. Durch den Regen sah es unruhig aus und die ungleichmäßigen Wellen an der Oberfläche erinnerten entfernt an den welligen Boden einer Wüste. Die Wassertropfen lösten kleine Kreise aus, die sich langsam ausbreiteten und dann ineinander verliefen.
Alex seufzte. Dann wagte er einen Blick nach oben. Dadurch traf der Regen ungehindert auf sein Gesicht. Alex konnte ihn sogar schmecken. Am Himmel hing ein Geflecht aus grauen, teilweise schwarzen Wolken. Dennoch war zwischen ihnen der Mond zu erkennen, wie er stolz am Himmel prangte. An seiner rechten Seite trug er einen schwarzen Schatten, dem er die Bezeichnung abnehmender Mond verdankte. Alex betrachtete ihn eine ganze Weile. Er empfand den weiß leuchtenden Himmelskörper noch immer als etwas Mystisches. Etwas, das unvorhersehbare Geschehnisse ankündigte.
Als sein Gesicht schon völlig unterkühlt war und sich die Nässe mittlerweile bis unter seine Kapuze vorarbeitete, nahm er seinen Kopf wieder herunter und blickte erneut auf das Wasser. Die frische Luft tat ihm zwar gut, doch die gesamte Situation machte ihn auf eine unerfindliche Art melancholisch. Alles erschien mit einem Mal so vergänglich. Der Mond nahm ab, der Schnee schmolz und Bens Praktikum war zu Ende. Alles um ihn herum veränderte sich und er konnte nichts dagegen tun, war vollkommen machtlos. Wie jedes Lebewesen war auch er gefangen im täglichen Ablauf der Zeit. Damit musste er sich abfinden. Dennoch hoffte er, dass er und Ben einen Weg finden würden, zusammenzubleiben. Er liebte Ben und wollte ihn nicht verlieren. Sobald der Dunkelhaarige zurück nach Flensburg müsste, würde er ihn so bald wie möglich besuchen. Das nahm er sich fest vor. Doch bis dahin musste er erst einmal dafür sorgen, sein restliches Leben in den Griff zu bekommen. Ben hatte nämlich recht. Auch er hatte ein Studium und musste sich in naher Zukunft entscheiden, ob er dies fortführen oder abbrechen wollte. Aber diese Entscheidung brauchte Zeit und eine genaue Abwägung der Vor- und Nachteile beider Möglichkeiten.
„Alexander Tannenberger …“, wurde er plötzlich von einer ihm bekannten Stimme aus den Gedanken gerissen.
Erschrocken drehte er sich zur Seite. Sein Herz begann sofort schneller gegen seine Brust zu schlagen. Ein kalter Schauer jagte über seinen Rücken und
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