Sommermond
gekommen waren, zum anderen war er ein Zeichen seiner Schwäche, die während seiner Wutausbrüche immer wieder zum Vorschein kam.
Erneut seufzte er, bevor er sich wieder aufrichtete und das Handtuch von seiner Schulter zog. Jetzt, wo er frisch geduscht war, fühlte er sich wenigstens etwas besser. Dennoch war er geschafft von all den Ereignissen. Müde trottete er zurück in sein Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. Er musste dringend schlafen, um wieder klarer denken zu können. Trotzdem fiel ihm das Einschlafen schwer. Sein Körper schien noch nicht zum Schlafen bereit zu sein. Er war viel zu aufgekratzt. Statt Schäfchen zu zählen, versuchte er sich anderweitig abzulenken. Dafür heftete er sich nicht an die aktuellen Umstände, sondern dachte an die Zeit vor dem Unfall zurück. Er erinnerte sich daran, wie er mit Ben Eislaufen gewesen war und sich dabei vollkommen blamiert hatte. Für ihn war es das erste Mal auf dem Eis gewesen. Ben hatte ihn regelrecht zu diesem Ausflug genötigt.
Ohne es zu merken, schlich sich so ein Schmunzeln auf seine Lippen. Auch sein Herzschlag verlangsamte sich. Irgendwann begannen sich die Gedanken in seinem Kopf nur noch schleichend zu wiederholen. So lange, bis es ihm tatsächlich gelang, einzuschlafen.
***
Als Alex aufwachte, fuhr er erschrocken hoch. Irritiert blickte er von links nach rechts und versuchte sich anhand von irgendetwas daran zu orientieren, wo er war. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass er sich in seinem Zimmer befand. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und fühlte sich einen ganzen Moment lang wie in einem fernen Traum. Als er schließlich einen Blick auf seine Armbanduhr warf und herausfand, dass es bereits spät am Nachmittag war, stöhnte er erschöpft auf.
Er streifte sich die zerwühlte Decke vom Körper und schob seine Beine aus dem Bett. Dann stand er auf, zog die Vorhänge auf und öffnete eines der Fenster. Sofort strömte ihm kühle Luft entgegen und half dabei, den Rest Schlaf aus seinem Verstand zu jagen.
Draußen hatte die Dämmerung eingesetzt und Regen war aufgekommen. Die kahlen Zweige der Bäume tanzten wie Geister im Wind. Alex vernahm ein leises Plätschern, das vermutlich vom schmelzenden Eis der Dachrinne kam. Die Regentropfen peitschten gegen das Fenster und hinterließen stecknadelgroße Spuren.
Obwohl er einige Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich noch immer müde. Sein Rücken schmerzte und auch sein Hals fühlte sich verspannt an. Er ließ die frische Luft noch ein paar Minuten herein, bevor er das Fenster wieder zudrückte, sich abwandte und stattdessen zu seinem Schrank schritt. Der Spiegel an einer der edlen Holztüren war noch immer kaputt. Wer hätte ihn auch in der kurzen Zeit austauschen sollen? Sein Vater fühlte sich für derartige Dinge nicht verantwortlich. Vermutlich wusste Jo nicht einmal, dass dieser zerstörte Spiegel existierte. Er wagte sich nur selten in Alex‘ Zimmer.
Der Blonde betrachtete sich in der noch heil gebliebenen Fläche und musterte sich skeptisch. Seine Haare waren völlig zerzaust. Eigentlich war das keine große Überraschung, nachdem er sich mit noch nassen Haaren ins Bett gelegt hatte. Doch sein Aussehen interessierte ihn im Moment wenig. Er strich sie die Haare glatt und benutzte seine Finger als provisorischen Kamm, um sich ein paar der Strähnen hinter die Ohren zu klemmen. Dann wandte er sich ab und warf einen erneuten Blick aus dem Fenster. Einen Augenblick überlegte er sogar, noch einmal zu Ben ins Krankenhaus zu fahren. Doch aufgrund der gegebenen Umstände entschied er sich vorerst dagegen. Vermutlich brauchte Ben Ruhe, und auch er selbst musste sich erst einmal Gedanken über viele Dinge machen. Deshalb würde ein jetziges Aufeinandertreffen vermutlich grundlos eskalieren.
Stattdessen entschied er sich dafür, eine kleine Runde spazieren zu gehen – trotz des uneinladenden Wetters. Früher war er oft an der Elbe entlang gegangen, und das Wetter hatte dabei noch nie eine entscheidende Rolle gespielt. Mit Sam hatte er täglich mehrmals nach draußen gemusst und sich mit der Zeit daran gewöhnt. Der Gedanke an seinen Schäferhund brachte ein brennendes Ziehen in seinem Magen mit sich, gefolgt von einem Gefühl von Schuld. Dennoch waren die Dinge nicht mehr rückgängig machbar. Egal, wie sehr er sich das wünschte. Er musste die Verantwortung für die verursachten Probleme tragen – auch, wenn die daraus resultierenden Konsequenzen schwer zu ertragen waren.
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