Sommermond
aus der Hand glitt.
„Verflucht!“, stöhnte er und bückte sich nach dem besagten Gegenstand.
Seine tauben Finger griffen nach dem Stahl und hoben ihn auf. Dann suchte er nach dem richtigen Schlüssel, schob sie dabei alle nacheinander an dem silbernen Ring entlang. Gerade so, als ob er den Schlüsselbund zum ersten Mal in den Händen hielt. Der vorletzte Schlüssel war schließlich der richtige. Alex beugte sich vor und steckte ihn ins Schloss. Mit einem leisen Knacken ließ sich die Tür öffnen. Sofort stieß ihm eine wohltuende Wärme entgegen. Vorsichtig schob er die Tür auf und trat ein. Er befreite sich aus seinen Schuhen und hängte seine nasse Jacke an die Garderobe. Seinen Schlüssel legte er auf die alte Kommode und wagte dabei einen Blick in den großen, gold umrahmten Spiegel. Er war kreidebleich. Sogar seine Lippen hatten jegliche Farbe verloren. Verschwommen betrachtete er sein Spiegelbild, bevor er sich wieder abwandte und in Richtung Treppe schritt. Doch in genau diesem Moment trat Jo aus dem Arbeitszimmer.
„Ah, ich habe richtig gehört!“, sagte er. „Du bist wieder da. Was wolltest du auch bei dem Mistwetter da draußen?“
Alex reagierte nicht. Er starrte seinen Vater entgeistert an.
„Wo sind Bens Eltern?“, fragte er und klang dabei monotoner als gewollt.
„Die sind noch mal zu Ben ins Krankenhaus gefahren“, erwiderte Jo.
„Und Nick?“, nuschelte Alex. Seine Lippen waren vor Kälte so taub, dass er sie kaum bewegen konnte.
„Der ist mitgefahren“, erklärte Jo und warf ihm einen mitleidigen Blick zu.
Alex nickte geistesabwesend und wandte sich erneut Richtung Treppe. Als er seinen linken Fuß auf die erste Stufe setzte, kam sein Vater plötzlich auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Schulter.
„Ich wollte ohnehin mit dir allein reden“, sagte er.
Alex musste schlucken. Die Übelkeit kehrte mit einem Mal zurück und kündigte sich durch einen übermäßigen Speichelfluss an.
„Komm doch bitte einen kurzen Moment mit ins Wohnzimmer!“, bat Jo.
Er war ungewohnt freundlich. Alex hatte allerdings nicht den Kopf, um sich darüber Gedanken zu machen. Er verweilte nur ein paar Sekunden, ehe er gehorchte. Wie ferngesteuert folgte er seinem Vater in den Wohn- und Essbereich. Als sein Vater sich auf die Couch setzte, tat er es ihm gleich.
„Magst du etwas trinken?“, fragte Jo.
Alex, der die ganze Zeit wie in Trance geradeaus starrte, blickte irritiert auf. Dann schüttelte er den Kopf.
„Bens Eltern scheinen Nick ungemein gern zu haben“, begann Jo. „Das ist sicher nicht leicht für dich.“
Alex horchte den einfühlsamen Worten und konnte sich keinen Reim aus dem Verhalten seines Vaters bilden. Seine Gedanken waren woanders. Immer wieder hallten die Worte des Spaniers in seinem Verstand wider. Alles erschien ihm so abwegig, dass er das Ganze kaum glauben konnte.
„Eigentlich wollte ich mich bei dir entschuldigen“, fuhr Jo fort.
„ Entschuldigen? “, hakte Alex nach. Er nuschelte noch immer und klang dadurch fast wie ein Betrunkener.
„Ja“, meinte Jo, „die Ohrfeige letztens. Das tut mir leid.“
Alex nahm die Worte auf und versuchte, sie zu verarbeiten. Dabei erinnerte er sich nur sehr schwammig daran zurück, wie sein Vater ihn reflexartig geschlagen hatte, nachdem er seine Liebe zu Ben deutlich zum Ausdruck gebracht hatte.
„Schon okay“, sagte er dann und starrte wie gebannt auf die schwarze Oberfläche des Granittisches vor sich.
Erst in jenem Moment schien Jo seine Geistesabwesenheit zu bemerken.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er.
„Ja, ja …“, tat Alex übertrieben ab und machte dabei eine nichtig tuende Geste.
Er konnte spüren, wie sich Jos Blick mit Skepsis füllte. Dennoch schien er bemüht zu sein, das angefangene Gespräch zu Ende zu führen.
„Na ja, jedenfalls“, fuhr er fort, „wollte ich dir sagen, dass ich in Zukunft mehr für dich da sein möchte. Ich bin froh, dass dir nichts Schlimmeres widerfahren ist.“
Alex musste innerlich auflachen – verzweifelt und selbstquälerisch. Da waren die Worte, die er sich so oft von seinem Vater wünschte, die Aufmerksamkeit, nach der er sich jeden Tag sehnte. Aber sie kamen in einem Moment, in dem er sie kaum weniger hätte brauchen können.
„Wie kommt’s?“, fragte er schlicht.
„Wie kommt was?“, hakte Jo nach.
„Du verhältst dich ja tatsächlich mal wie ‘n Vater“, erwiderte Alex. „Also, was steckt dahinter?“
Besser hätte er seine Zweifel
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