Sommermond
problemlos aus der Szene auszusteigen.
Verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durchs Gesicht. Er hatte tatsächlich geglaubt, all das würde mit der Begleichung seiner Schulden ein Ende haben. Doch jetzt erschien es fast, als ob Ben sein Opfer umsonst gebracht hatte. Er wäre beinahe gestorben. Und wofür? Für nichts.
Alex seufzte und presste seine Lippen zusammen. Er hatte an eine bessere Zukunft geglaubt. Einfach daran, mit Ben einen Neuanfang zu beginnen. Doch dieser musste zurück nach Flensburg, während seine Probleme noch immer existierten und alles erschien, als ob es keinen herausragenden Zwischenfall gegeben hätte. Der Unfall schien bedeutungslos und das Geld, das er über Wochen aufzutreiben versucht und letztendlich von Jo erhalten hatte, war einfach verschwunden. Weg. Als hätte es den Aktenkoffer mit den 40.000 Euro nie gegeben.
Während er weiter nachdachte, stand er auf und öffnete das Fenster. Auf dem Fensterbrett lag eines seiner Feuerzeuge. Er nahm es in die Hand und probierte es ein paar Mal aus. In der anderen Hand hielt er den Brief. Er zögerte noch einen letzten Moment, bevor er ihn aus dem Fenster streckte, das Feuerzeug anknipste und den Brief in das Feuer hielt. Die kleine Flamme wuchs rasant. Das Papier verbog sich, verfärbte sich schwarz und wurde schließlich von dem Feuer verschlungen. Der Wind erfasste die Asche und verteilte sie in der Luft. Alex sah ihr noch so lange nach, bis auch der letzte Rest des bedeutenden Geständnisses aus seiner Sichtweite verschwunden war. Das Fenster ließ er noch eine Weile offen. Doch der Gestank von verbranntem Papier schien sich bereits in die Fasern seiner Kleidung und den Stoff der Gardinen gefressen zu haben. Das spielte jedoch keine Rolle. Wichtiger war, dass er den Brief vernichtet hatte und damit einen Beweis, der ihn hinter Gitter bringen könnte, wenn er in falsche Hände geriet. Geschriebene Worte waren viel wert. Das wusste er aus Erfahrung.
„Lass dir bloß immer alles schriftlich geben!“, hatte ihn seine Mutter schon zu Schulzeiten gelehrt. „Dann kannst du dich immer auf die Fakten berufen.“
Alex nickte gedankenverloren. Seine Mutter hatte ihm viele Lebensweisheiten hinterlassen und besonders von dieser konnte er nun profitieren. Dafür war er ihr dankbar.
Nach einer Weile wandte er sich vom Fenster ab. Er warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel und strich sich die Haare glatt. Dann ging er zur Tür und machte sich auf den Weg zu Jo. Er eilte die Treppe hinunter und schritt zum Arbeitszimmer. Als er Jo nicht an dessen Schreibtisch vorfand, ging er weiter zum Esszimmer. Die Tür war nur angelehnt und schon aus der Entfernung vernahm er den pikanten Geruch von Kaffee. Vorsichtig trat er an die Tür und schob sie zögerlich auf.
Jo hatte ihn bemerkt, blickte aber nicht zu ihm auf. Wie üblich stand eine Tasse Kaffee vor ihm und wie üblich lag dort die Zeitung. Unüblich war allerdings, dass er nicht in ihr las und recht blass wirkte. Er saß starr da, schielte in Richtung der aufgeschlagenen Zeitung und fuhr sich mit der flachen Hand über die Lippen.
Alex klopfte leise an die Tür. „Vater?“, sagte er dazu. „Ist irgendwas passiert?“
In jenem Moment war der Streit vom Vorabend vergessen. Jo war ein starker Mann. Es kam nicht oft vor, dass er derart in sich gekehrt war. Das letzte Mal hatte er sich nach dem Tod von Alex‘ Mutter so verhalten. Danach nie mehr.
Jos Mund war leicht geöffnet. Irritiert blickte er auf und schien Alex‘ Anwesenheit tatsächlich erst jetzt zu verinnerlichen.
„Alexander …“, entgegnete er. Seine Stimme klang schwach.
Alex blickte seinen Vater an und trat vorsichtig näher. Als er fast bei Jo angekommen war, lehnte sich dieser in seinem Stuhl zurück und deutete demonstrativ auf die aufgeschlagene Seite der Tageszeitung.
„Das ist doch lächerlich!“, schimpfte er und schob die Zeitung in Alex‘ Richtung.
Alex versuchte einen Blickkontakt zu seinem Vater herzustellen, doch als ihm dies misslang, wandte er sich ab und warf stattdessen einen Blick auf die Zeitung. In großen, schwarzen Lettern sprang ihm eine Schlagzeile entgegen, die sofort ein mulmiges Gefühl in ihm auslöste.
„ALEXANDER TANNENBERGER UNTER VERDACHT VERSUCHTEN MORDES“
Alex‘ Augen weiteten sich. Sein Blick schweifte wie von selbst auf das gedruckte, farbenblasse Bild, das ihn am Pinnasberg zeigte, wie er in Handschellen von der Polizei abgeführt wurde. Irgendein Bewohner musste das Foto
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