Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
ihr Blut zum Kochen. Allein schon die Vorstellung! Er war einfach zu dreist, um die Sache auch nur im Mindesten zu erwägen. Als sie die Kinder ins Klassenzimmer führte, fühlte sich Adele verschwitzt und durstig. Das geht nicht, sagte sie sich, und dennoch musste sie die ganze Nacht grübeln, ob er sie nun tatsächlich gebeten hatte mitzukommen, oder ob er die Absicht hatte, sie zu bitten. Helen wüsste, was zu tun wäre. Sie würde Helen über diesen Baseballmann ausfragen müssen, diesen dreisten Iren, diesen Patrick Ahearn.
»Oh, seht mal«, sagte der alte Mann, »ein neuer Film.«
Das Klickklack des Projektors setzte sich ratternd in Bewegung, und eine rechteckige Lichtfläche blitzte an der Wand auf, bevor das Bild selbst erschien. Die Führungslöcher an den Seiten flatterten wie verrückt, dann verschwanden sie, und die Gestalten wurden erst heller, dann wieder dunkler und scharf und schließlich lebendig: Zwei junge Frauen sitzen in Leinenkleidern Seite an Seite auf einer Verandaschaukel zur guten alten Sommerszeit. Eine schwarzweiße Promenadenmischung liegt, zusammengerollt wie ein Zimthörnchen, etwas außer Reichweite ihrer Füße. Auf der Fensterbank stehen ein Kondenswasser schwitzender Glaskrug mit Limonade und zwei leere Gläser. Es weht ein Wind, denn durch die Zweige eines Baums flutet ein Tanz von Licht und Schatten auf ihre Gesichter. Vertraut wie Schwestern sprechen die beiden miteinander. Eines dieser jungen Mädchen ist unsere Adele, ihr honigfarbenes Haar ist zwar nach der damaligen Mode hinten bauschig aufgekämmt, doch bei diesem Gesicht und diesen Zügen gibt es keinen Zweifel. Die andere, deren dunkles Haar sich zu einem Berg von Locken türmt, ist ihre Freundin Helen, der Name passt, denn sie ist umwerfend.
»Die Freundin ist ein Hingucker«, raunte ich dem alten Mann zu.
»Ein Gibson-Girl«, entgegnete er hinter vorgehaltener Hand. »Benannt nach dem Künstler, der das Original zeichnete. Eine Art Personifizierung der idealen Weiblichkeit, wenngleich in dem Ganzen ein wenig Satire steckt, ein Knuff gegen die Neigung der Männer, die Hälfte der Menschheit zu sexualisieren. Großer Gott, schau dir diese Taille an. Da hat ja eine Wespe einen dickeren Bauch. Kein Wunder, dass du sie für die Schönere der beiden hältst.«
Während die beiden jungen Frauen auf der Schaukel hin- und herschwangen und plauderten, ertönte Klaviermusik, die durch den Badezimmerventilator gefiltert wurde. Einige entscheidende Informationen wurden gegeben, und die Kamera zoomte in die Naheinstellung. Adele an der Wand regte sich besonders auf, und der Zwischentitel lautete: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass er einen Bruder hat.« Helen lächelte breit, und in der Naheinstellung war die dicke Make-up-Schicht zu erkennen. Sie sagt etwas und zwinkert. Der Zwischentitel verrät kurz darauf: »Und er ist ganz süß zu mir!«
Der Titel an der Wand lautet: »Ihr erstes Spiel«, und eine Überblendung führt zu einer Einstellung, in der sich die Menschenmenge über die School Street zum Exposition Park wälzt. Die beiden Turmspitzen, die das Dach der hölzernen Tribüne schmücken, ragen in den Smog, doch die Männer und die Burschen sowie die wenigen Frauen drängen vorwärts, ein Meer aus Hüten und Kappen. Angespornt von der Aussicht auf das Duell gegen die New York Giants um drei Uhr, wirkt die Menschenmenge wie elektrisiert vor Glück. Die wenigen Frauen in der Schlange sind ebenso fein gekleidet wie die Gentlemen. Helen und Adele tragen ähnliche Glockenhüte aus Stroh mit einer Pfauenfeder, der eine in Blau und der andere in Rot – zu Ehren des heimischen Teams. Adele wird in dem Augenblick gefilmt, als sie zurück zur Kamera schaut und mit einer Hand ihren Hut festhält, und schon wird sie weitergedrängt.
Als der Film zu Ende ist, nimmt Adele ihre Geschichte wieder auf.
Reiner Zufall, doch früher oder später hätten sie sich auf jeden Fall getroffen. Die Ahearn-Brüder waren Iren aus dem West End, sie waren jedoch in die Stadt gezogen, in eine eigene Wohnung, die näher zu ihrer Arbeit lag. Da Pat frühmorgens aufhörte und Christy nachts arbeitete, hatten sie an Sommertagen nichts anderes zu tun, als zu den Baseballspielen zu gehen. Ab Juni gingen sie zu viert, und Adele legte ihre Vorbehalte ab, denn sie wollte dem frechen Kerl einfach nahe sein.
An den Toren zahlte Pat den geringen Eintritt für alle vier, so als wäre ein Dollar nichts, und er gab dem Mann noch einen weiteren Dollar, damit er
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