Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
manchmal, je nach den Kurbelbewegungen des Kameramanns, immer wieder huschten Kratzer, Staubflecken und über- oder unterbelichtete Stellen vorüber. Die Tonspur setzte ein, ein altertümliches Piano begleitete die Handlung. Wenn auch in der Szene nicht viel geschah. Die Kamera bewegte sich nicht und auch die Darsteller nicht. Ein Zwischentitel erschien: »Patrick Ahearn und sein jüngerer Bruder Christopher ›Christy‹, Pittsburg, Penna., 1903.«
Beckett rief von den billigen Plätzen. »Hey, ich dachte, am Ende von Pittsburgh stünde ein h.«
»Nicht null drei«, sagte Adele. »Da schrieb man es noch anders.«
Im Film zündet sich Christy eine Zigarette an und scheint sie im Superzeitraffer zu rauchen, da die Kamera offenbar zu langsam gekurbelt wurde. Pat wirft den Baseball wieder und wieder, bis er eine Grimasse in die Kamera schneidet. Sein Haar ist glatt nach hinten gekämmt, der Scheitel messerscharf gezogen. Er lümmelt nicht mehr gegen die Balustrade und stellt sich gerade hin. Aus seinem Blick spricht Selbstvertrauen. Wieder wirft er den Ball, und das Bild wird schwarz.
Im Jahr nach ihrem Abschluss der zwölften Klasse half Adele den Schwestern von St. Luke’s dabei, die Kleinen mit ordentlichen Mänteln und Handschuhen auszustatten, sie flickte die zerfledderten Bücher und leitete den Kinderchor. Da zwei ihrer jüngeren Schwestern, Katie und Grace Ann, dort noch zur Schule gingen, hatte sie die Möglichkeit, tagsüber Mutter zu spielen. Manchmal überlegte sie, ins Kloster zu gehen, doch es ereilte sie nie der Ruf; und aufgrund der vielen Zeit, die sie mit den Kindern verbrachte, erwachte in ihr unwillkürlich der Wunsch, selbst eine Familie zu haben. Aber das ist eine andere Geschichte, nicht wahr? In jenem Frühjahr wurde ein armer Junge aus der dritten Klasse von einer Straßenbahn angefahren und getötet. Die ganze Klasse wurde auf der Beerdigung erwartet. Schwester Aloysius war von Trauer überwältigt und bat Adele, die Schüler auf dem Weg von der Schule zum Friedhof zu begleiten.
Die Kinder waren unruhiger als sonst, wenn die Nonnen sie begleiteten; für alle, bis auf wenige Ausnahmen, war das Ganze ein großer Spaß, ein Spaziergang im Sonnenschein. In zwei Reihen, die zwölf Mädchen paarweise, ebenso die neun Jungen, wobei sie selbst den Überzähligen, Frankie Day, an die Hand nahm. Auf dem Weg zur Kirche mussten sie immer wieder zur Ruhe und Mäßigung ermahnt werden, doch nach der Messe und nachdem der kleine Sarg in dem Loch versenkt war, waren die Kinder nicht mehr zu bändigen. Manche Mädchen verweigerten ihrem Gegenüber in der Reihe die Hand. Jungen traten – wie Jungen es nun einmal tun – auf die Absätze ihrer Vorderleute, schwatzten wie Spatzen, und ein Junge fingerte an einer Beule in seiner Hose herum, die verdächtig nach einem Eichhörnchen aussah. Es stellt sich heraus, dass er einen Baseball in seiner Hosentasche hatte, und wann immer Adele ihm den Rücken zukehrte, holte er ihn heraus und warf ihn seinem besten Freund zu.
Der Weg führte genau an den beiden Männern auf der Treppe vorbei, und Adele bemerkte, dass der ältere sie ansah. Sein Blick brannte beinahe ein Loch in ihren Rock. Als hinter ihr ein Junge aufschrie, drehte sie sich unter den gegebenen Umständen, natürlich in Sorge um seine Sicherheit, eilig um.
Wie eine Engelsschar erscheinen die Jungen und Mädchen in der Fotografie auf den Kacheln der Dusche. Aufgereiht wie für ein Klassenfoto, wirken sie erwachsener und fremdartiger als die Achtjährigen von heute. Vielleicht liegt das an der Förmlichkeit der Mode. Die Jungen sind so gepflegt und sauber wie Banker, noch in kurzen Hosen oder Knickerbocker mit Kniestrümpfen, und ihre geknöpften Hemden leuchten. Die Mädchen haben ihr Haar mit Bändern und Locken geschmückt und sitzen sittsam da in kurzen Kleidern oder einfachen Röcken mit Bluse. Sie sind arm, aber das Aussehen ist wichtig. Neben einer mürrischen Nonne steht ein leerer Stuhl, vermutlich der, auf dem früher der verunglückte Junge saß. Unter den Kindern steht in weißer Schrift: »St. Luke’s, dritte Klasse, Mai 1903.«
Während Adele mit ihrer Geschichte fortfährt, wandelt sich das Bild anfangs fast unmerklich, denn es ist noch immer dieselbe Gruppe dieser einundzwanzig Kinder, die auf denselben Stühlen sitzen, doch sie sind älter geworden. 1909 ist ein weiterer Stuhl leer. 1918 sind sie junge Männer und Frauen, doch die Nonne ist verschwunden, und drei Jungen fehlen,
Weitere Kostenlose Bücher