Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
und streiften ansonsten zur Entspannung oder aus Abenteuerlust durch die Wälder oder am Strand entlang. Man konnte kleine Schätze finden – eine Truhe, die aus dem Wrack der Sea Venture angeschwemmt wurde, einmal sogar eine Auster mit einer Perle darin und alle Arten von Hüllen, die verschiedenste Meerestiere abgestreift hatten.
Von den drei Männern war Mr. Carter der zurückgezogenste, er beachtete den Jungen kaum. Seine Zeit verbrachte er mit den wenigen Büchern, die zurückgeblieben waren, wobei er eifrig zu der Geneva-Bibel, die einst Mr. Bucke gehört hatte, griff und immer wieder darin las; an den Versen standen seltsame Zahlen und am Rand gedruckte Anmerkungen, die die Unklarheiten mancher Geschichten erläuterten. Oder ansonsten kritzelte er in sein Tagebuch, ein ehemaliges Schiffslogbuch, das er aus Mr. Ravens Habe in Beschlag genommen hatte. Bei den wenigen Gelegenheiten, die er allein mit dem Jungen war, versuchte Mr. Carter ihm beizubringen, wie man die Buchstaben des Alphabets auseinanderhält, und hatte ihm in sechs Monaten die Grundbegriffe der Kunst des Lesens beigebracht. Robert Waters, der vor Kurzem einen Mann getötet hatte, versuchte Jane möglichst aus dem Weg zu gehen; doch er war fast immer in der Nähe von Mr. Carter oder Mr. Chard, Einsamkeit ertrug er nicht, als quälte ihn die Erinnerung an seine böse Tat im Zornesrausch. Immer wenn Waters mit Long John allein war, zeigte er ein Lächeln, das besonders niederträchtig wirkte, da ihm die beiden Zähne fehlten, die manche Augenzähne nennen oder auch Reißzähne, denn sie sind in manchen Mäulern spitz und scharf. Wie er diese Zähne verloren hatte, erzählte Wa ters nie, und zudem ging er an einer krummen Krücke. Jane vermutete, dass er, der so lange zur See gefahren war, auf einer weiten Reise an der Seemannskrankheit gelitten hatte. Alles in allem war er, bis auf sein mörderisches Herz, ein angenehmer Kerl, und während ihrer gesamten Zeit auf den Inseln sprach er nicht ein einziges böses Wort zu ihr.
Was Mr. Chard, Edward, anging, so fand sie ihn am faszinierendsten von den dreien, denn er erwies sich gleich zu Anfang als ein äußerst ungezwungener und zupackender Mann, der sich an die Inseln anpasste, als hätte er schon immer dort gelebt; wie ein Affe kletterte er die Palmen hoch, um Nüsse und Palmwedel zu sammeln, begeistert jagte er Fische mit dem Speer, fing Schweine mit dem Lasso und grub Schildkröteneier aus. In den langen Sommermonaten lief Chard barfuß herum, seine Strümpfe waren schon lang in Fetzen. Da er in der Gegenwart seiner männlichen Gefährten unbefangen war, legte er bei Hitze bald auch sein Hemd ab, sodass seine Haut die Farbe von Zedernholz annahm. Wann immer ihm sein eigener Geruch zu sehr in die Nase stieg oder er sich einfach im Wasser abkühlte, streifte er alle Kleider ab, sodass seine untere, im Kontrast, blasse Hälfte mitsamt seiner Rute zu sehen war. Das Unbehagen, das sie beim ersten Mal, als sie ihn so sah, verspürte, wich bald sündigem Vergnügen, sodass sie sich oftmals wünschte, die Sonne möge scheinen, nur um ihn herumtollen zu sehen, obwohl er die anderen mit seiner Nacktheit drängte, ihm in das kühle Meer zu folgen. Doch Jane wagte sich nie ins Wasser, außer wenn sie, was selten vorkam, sich mit Crab davonstehlen konnte, während die anderen dösten; auf der anderen Seite der Insel konnte sie baden und sich auf den Hund als ihren Wächter verlassen, der wie verrückt bellen würde, sollte sich jemand nähern. Wachsamkeit war ihr Motto, und immer hatte sie einen Streifen Stoff um die Brust gebunden.
Auf diese Weise verbrachten sie alle Jahreszeiten, auf den sorglosen Sommer folgten die Herbstschauer und anschließend die kühlen Winternächte. Kein Segel tauchte auf dem Meer auf, aber im Frühling schwammen Walherden, so groß wie ihre gesamte Expeditionsflotte, vorbei. Die vier Schiffbrüchigen kletterten auf einen hohen Felsen, um zu beobachten, wie die großen Tiere im sauberen Wasser spielten und fraßen. Von dort oben wirkten diese Leviathane so klein wie die Delfine und Tümmler, die häufig an der Küste der Bermudas zu sehen waren.
»So ein Tier«, erzählte ihnen Mr. Carter, »hat den Propheten Jona gefressen.« Er schlug seine Bibel auf, die er immer zur Hand hatte, und fand die entsprechende Seite. »Aber der Herr verschaffte einen großen Fisch, Jona zu verschlingen. Und Jona war im Leibe des Fisches drei Tage und drei Nächte.« Mit dem Finger fuhr er der
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