Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Jeden Tag nach der Schule füllte ich jeden Quadratzentimeter dieser Fläche. Einmal malte ich einen ganzen Häuserblock. Jedes Fenster, jede Tür, alle Ziegel perfekt und an der richtigen Stelle. Oder ich zeichnete eine Karte unsichtbarer Länder und geheimnisvoller Städte. Ich bestimmte, wo der Park sein würde, das Baseballstadion, alle Straßen und Brücken. Später als Collegestudent und anschließend als Praktikant und Juniorpartner lebte ich in einer Reihe von Apartments, schachtelähnlichen Studios oder einmal in einer charmanten kleinen Wohnung, aber diese Zellen dienten keinem anderen Zweck als wenigen Stunden Schlaf. Als mein Bruder und ich dieses Haus kauften, um gemeinsam darin zu leben, hatte ich endlich Traumbilder. Mit diesem Haus verbunden sind die Träumereien einer Frau. Selbst jetzt kann ich sie mir hier vorstellen, wie ein Phantom bewegt sie sich durch das Labyrinth der Räume und verschönert sie mit ihrem Lachen. Ein Ruhestündchen auf dem Sofa an einem Sonntagnachmittag, ihre Füße unter der zusammengerollten, schlummernden Katze. Das Trockenrubbeln ihrer Haare in der Küche, nachdem sie in einen Schauer geraten ist. Von Glühwürmchen umschwirrt in einer warmen Juninacht. Ich habe alles von ihr, außer einem Namen. Wo ist sie jetzt, und was ist aus ihr geworden? Wer ist sie? Und übrigens, wer sind diese Fremden hier? Die Möglichkeit, dass der Mann, mit dem ich im Badezimmer zusammengetroffen bin, der Geist meines Vaters ist, erscheint mir immer unwahrscheinlicher, und wenn nicht, wer ist er dann, und was will er?
Etwas zu essen, natürlich. Der alte Mann war in diesem Augenblick oben mit Dolly und Jane und tat wer weiß was. Aber ich erinnerte mich: Er war hungrig und wollte sein Essen. Mit wieder klarem Kopf blieb ich an der Haustür stehen, die Küche zu meiner Linken, zu meiner Rechten ruhte das Wohnzimmer wie ein Grab. Da der Kater leise maunzte, streckte ich den Kopf um die Ecke und sah ihn auf dem Fernseher liegen, wo sein Schwanzende sich rund um die LED -Uhr kringelte. Ich lockte ihn mit einem Kuss, und er kam geradewegs zu mir, machte einen Buckel und rieb sich behaglich an mir. Ich hob ihn hoch und ging in die Küche.
Mir fiel die zweite Zeile ein: To fetch her poor dog a bone . Ich knipste das Licht an, und der Raum erstrahlte in schierer Klarheit. Jemand war mitten in der Nacht, in der Zeitspanne zwischen meinem jetzigen und dem vorherigen Betreten der Küche, hier gewesen und hatte gründlich geputzt und geschrubbt, die Arbeitsflächen glänzten, die Herdplatte funkelte, und jeder Gegenstand – der Brotkorb, der Messerhalter und alles andere sauber und ordentlich – verlieh der Küche eine Künstlichkeit, als wäre sie ein Vorführmodell oder eine Requisite für die Bühne oder ein Fotoshooting. Hinter den Türen der Schränke und Vitrinen war alles leer, nicht eine Schachtel, nicht ein Beutel oder eine Dose mit Lebensmitteln, nicht einmal ein Gewürzglas oder ein Tütchen Backpulver. Auch der Kühlschrank war leer geräumt und gereinigt. »Entschuldige, Miez«, sagte ich. » When she got there , the cupboard was bare , and so her poor doggie had none .«
Der Kater miaute hungrig. Ich nahm ihn auf den Arm und ging in den Keller, wo ich weitere Vorräte aufbewahrte, Konserven, Kaffee, Tee und eine Tiefkühltruhe voll mit Lebensmitteln, die normalerweise nicht in die Speisekammer oder in die Schränke passten. Im schwachen Licht einer hängenden Glühbirne war der Raum schummrig, aber zu meiner Beruhigung wiedererkennbar: die Waschmaschine, der Trockner, der Stoß alter Design- und Architekturbücher und andere Andenken an mein früheres Leben, und auf dem Tisch neben meinem Werkzeugkasten und seltsamen Holzstücken standen die überzähligen Nahrungsmittel. Ich entdeckte eine Dose mit Thunfisch und steckte sie für den Kater in die Tasche. Ein schwindelerregendes Aufgebot an Suppen-, Obst- und Gemüsedosen türmte sich zu einer Pyramide. »Was wollte der alte Mann?«, fragte ich mich. »Nicht Schildkrötensuppe, sondern etwas anderes …«
»Fleischeintopf«, sagte der Kater.
Ohne zu zögern, fing ich an, einen prüfenden Blick auf die Etiketten zu werfen. »Nie von Fleischeintopf gehört …« Und dann durchfuhr es mich, dass der Kater nicht gesprochen haben sollte. Er stakste mit aufgestellten Ohren, als lauschte er, zwischen den Birnen und Bohnen umher, wie es sich für eine Katze gehört. Sein Schwanz zuckte unter meinem durchdringenden Blick. »Was hast du gerade
Weitere Kostenlose Bücher