Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
bis nach Tunis. Einer seiner Gefährten, ein Franzose namens du Chêne, brachte ihn eines Nachts im Vollrausch um, weil er ein Mädchen, das er aus Westafrika mitgenommen hatte, lüstern begehrte.«
Ich gab eine Plattitüde zum Ende ihrer Geschichte von mir: »Eine Art poetische Gerechtigkeit, findet ihr nicht?«
Mit zwei Sätzen war Jane in der Ecke bei der Toilette und griff nach der Harpune, deren zerborstenes Ende sie wie eine Ramme schwang. »Gerechtigkeit?« Sie reckte sich, als wollte sie mir die zackigen Splitter in die Brust stoßen. »Welch eine Gerechtigkeit erkennst du denn darin, dass das Leben eines jungen Mädchens durch die Gier und den Neid eines einzelnen Mannes ein brutales Ende findet?«
Hätte sich nicht mein Beschützer zwischen uns geworfen, hätte sie mich aufgespießt, doch der alte Mann gebot ihr mit einer Geste Einhalt und beruhigte sie mit einem Wort. Ihr rotes Gesicht verblasste zu Rosa, als ihr das Blut aus dem Kopf rauschte, und benommen übergab sie ihm wieder die Harpune und sackte auf dem Klodeckel zusammen.
»Mein Freund.« Der alte Mann nahm mich beiseite. »Vielleicht könnte deine vorübergehende Abwesenheit diesen Sturm vertreiben. Was haltet ihr davon, Ladys, wenn wir uns für einen Augenblick zurückziehen?«
Dolly und Jane rückten näher an ihn heran, hakten sich jeweils in seine Armbeuge ein und wisperten ihm abwechselnd erstaunliche Worte ins Ohr.
»Hast du einen Platz, wo wir ein privates Intermezzo genießen können?«
Mein erster Gedanke galt meinem Schlafzimmer, doch dann erinnerte ich mich an die verschiedenen, vermutlich noch schlummernden Frauen im Bett. Ich schlug mein Arbeitszimmer zwei Türen weiter vor, aber da es ihm nicht zu behagen schien, die Damen allein zurückzulassen, schob er sie in die Wanne hinter den Duschvorhang. Wieder sprach er in leisem, vielsagendem Tonfall mit mir. »Sie wollen mir etwas beibringen … gewisse Dinge.«
»Gewisse Dinge?«
»Du weißt schon … gewisse Dinge von delikater Natur. Gewisse Dinge, die ihre Geschichten nahelegen. Diskretes.«
»Ich verstehe. Gewisse Dinge.«
»Nicht jeder von uns ist ein Mann von Welt, so wie du.«
»Du machst dich über mich lustig.«
»Ich stamme aus einer sehr angesehenen Familie. Ich habe oft spekuliert, allerdings auf andere gewisse Dinge.«
Vollkommen baff über die Begründung, konnte ich nur nicken.
»Sei ein guter Junge«, sagte er, »und mach uns etwas zu essen, während wir beschäftigt sind. Wir werden bestimmt ausgehungert sein.«
»Hast du eine bestimmte Vorstellung?«
Er strich sich über das Kinn, als erwäge er einen schmalen Van-Dyk-Bart.
»Ich bin nicht wählerisch, aber wenn du eine Schildkrötensuppe hättest …«
»Nein, glaube nicht.«
»Ein Fleischeintopf tut es auch. Ein kleines déjeuner , um dem Hunger die Spitze zu nehmen, eh?« Und mit diesen Worten schob er mich aus dem Bad.
Old Mother Hubbard went to the cupboard . Die Zeile aus dem Kinderlied begleitete mich auf meinem Weg an den geschlossenen Türen vorbei und die dunkle Treppe hinunter, aber als ich den unteren Treppenabsatz erreicht hatte, war mir der Rest des Liedchens entfallen, und außerdem hatte ich den Grund für mein Hinuntergehen vergessen. Vielleicht war es der Schlag auf den Kopf, oder vielleicht hatte der Besuch dieser merkwürdigen Leute mit ihren verqueren Geschichten mein Kurzzeitgedächtnis erschüttert, oder vielleicht rangelten sich Ereignisse von vor langer Zeit nun mit Gedanken des Augenblicks, aber der Grund für mein Zugegensein an dieser Stelle zu dieser Stunde hatte sich verflüchtigt. Wie so oft, wenn ich etwas Verlegtes suchte – mein Portemonnaie, die Uhr oder die Schlüssel –, bemühte ich mich, der Verwirrung zu entkommen, indem ich durch Überlegen Schritt für Schritt in der Zeit zurückging.
Unsere Erinnerungen rufen wir uns am besten durch die Häuser, in denen wir gelebt haben, ins Gedächtnis. Das Haus meiner Eltern, wo mein Bruder und ich aufwuchsen, birgt meine Kindheitserinnerungen in seinen Wänden, und jeder Versuch, mein jüngeres Ich zu erwecken, erfordert auch, in Gedanken dieses Haus wieder aufzubauen. Als Junge saß ich oft stundenlang im Arbeitszimmer meines Vaters an seinem Schreibtisch und zeichnete. Meine Mutter hob diese riesigen Bögen aus braunem Papier, wie man sie in der Post zum Einpacken von Paketen bekommt, auf; sie waren etwa einen Meter zwanzig lang. Damit sich die Ränder nicht einrollten, beschwerte ich alle Enden mit Bauklötzen.
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