Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

zu unserer jetzigen Feindschaft gekommen wäre, hätte ich nicht zufällig diese Ambra gefunden? Mir scheint, Sir, die Aussicht auf große Reichtümer hat in Euch große Veränderungen bewirkt.«
    Sofort zog Chard sein Ruder ein, wodurch er Waters zwang, das Gleiche zu tun, da sie sonst im Kreis gefahren wären. Das kleine Boot tanzte auf den Wogen, als Chard einen stechenden Blick auf Waters richtete. »Ihr? Ihr habt den Wal gefunden? Ich war’s, ich habe ihn zuerst gesehen!«
    »Komm, Edward, lass uns Freunde sein«, beschwor ihn Waters. »Wir haben euch gute Nachrichten heute Morg…«
    »Wie kannst du das sagen? Ich habe das Ambrafett gefunden, und darum gehört von Gesetzes wegen der größte Teil des Wals mir.«
    »Jane und ich haben beschlossen, dass wir heira…«
    »Es ist meins!«, brüllte er. »Und was soll das, heiraten? Du bekommst sie nicht, Robert, und das Geld auch nicht! Ich habe ihr Geheimnis zuerst entdeckt, ebenso wie ich den Schatz zuerst entdeckt habe.«
    »Mr. Chard, bitte«, sagte Jane. »Wir lieben uns.«
    »Liebe, ja? Liebe? Du gehörst auch mir, Jane Long, und ich bin noch lange nicht fertig mit dir. Wie kannst du es wagen, etwas für dich zu beanspruchen, das mir gehört, Mädchen oder Ambra.« Er stieß Waters das Kolbenende des Ruders in die Rippen.
    »Hör auf!«, rief Waters. Er griff nach dem Messer, das er im Gürtel an der Hüfte trug. »Mach das noch einmal, und ich schneide dir die Kehle durch!«
    Jane, die sich im Boot nach vorn beugte, brachte es zum Schaukeln.
    »Sirs, ich flehe Euch an!«
    »Lass das Flehen, du Nichts! Du bist nicht besser als ein Dieb und eine Hure, du Vogelscheuche.« Er spuckte ins Meer. »Er kann dich haben, meinetwegen, aber das Vermögen gehört rechtmäßig mir, denn ich habe es zuerst gesehen, verdammt noch mal!«
    Sie streckte die Hand aus, wollte sie ihm aufs Knie legen und ihn beruhigen, zog sie dann aber wieder zurück. »Ein Viertel gehört Euch, Mr. Chard. Und uns gehört die Hälfte.«
    Das Ruder traf sie so rasch und präzise, dass Jane nicht einmal die Zeit blieb, abwehrend die Hand zu heben. Das Ruderblatt traf ihre Stirn und teilte die Haut wie eine überreife Melone, ein Blutstrahl schoss aus der Wunde, und der Schlag streckte sie da nieder, wo sie saß. Es heißt, im Moment des Todes ziehe das ganze Leben noch einmal an einem vorüber, und in diesen Sekundenbruchteilen dachte sie tatsächlich an ihre Mutter mit der jüngsten Brut an der Brust, dachte daran, wie sie sich auf die Ruderpinne warf und damit die Sea Venture vor dem Untergang im Hurrikan rettete, sie dachte an Ravens, der sie wie ein Vater anlächelte, an die Männer und Frauen, die zum Abschied von den Decks der Patience und der Deliverance winkten, dachte an Chards ersten Kuss und den Traum vom Leben mit Waters, all dies in einem einzigen Augenblick, der sich zweiteilte, und beide Hälften spalteten sich wiederum auf, denn welches Zeitmaß könnte nicht immer weiter zerkleinert werden? Es gab keinen Schmerz, doch der Stillstand der Zeit endete plötzlich, als Long Jane Long vom Ruderboot in den Atlantik glitt und die Welt sich drehte, der Himmel plötzlich unter ihrem Kopf war und die Wellen über ihren Füßen. Als sie den Mund öffnete, um den Männern im Boot, das nun unter ihrem sinkenden Körper zu schweben schien, »Rettet mich« zuzuschreien, sog sie das ganze Meer in ihre Lungen, sie spürte, wie sie anschwoll, und rang nach Luft, als lasteten beide Männer und auch Carter und die ganze Virginia Company auf ihrer Brust. Sie hoffte, ein großer Fisch schwämme heran und verschlänge sie, hoffte, der Herr möge sie erlösen, in der Stunde ihres Todes, als sie diese Welt wegen des Wutausbruchs eines von bitterem Neid erfüllten Mannes verließ.

Kapitel fünf
Das Haus mit den singenden Fenstern
    B is zum Ende ihrer Geschichte hatte sie uns in der Ergriffenheit unserer eigenen Fantasien gefangen gehalten. Die Vorhänge am schmalen Fenster wedelten eine Brise mit dem Duft nach stark salzigem Meer herein, mit dem Geruch von gegrilltem Fisch, in Kräutern gedünsteten Krebsen und in der Hitze bratender Austernmuscheln, obwohl der Sonnenaufgang, nach der geschundenen Farbe des Himmels zu urteilen, erst in ein, zwei Stunden sein würde. Im Abfluss gurgelndes Wasser durchbrach die Stille, und ich starrte ins Waschbecken, wo ich ein kleines, im Strudel kreisendes Ruderboot entdeckte, einen Wirbel, der schon bald alles nach unten zog: Boot, Wasser, ein Inselchen inklusive