Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
immer zwei Stufen auf einmal, nach oben, voll Angst, was wohl der Anlass für eine solche Not war.
Der alte Mann, Dolly und Jane drängten sich mit dem Rücken zu mir um die Badewanne. Erst als ich näher trat, sah ich das Objekt ihrer andächtigen Aufmerksamkeit. Alice, die auf dem Wannenrand saß, hielt ein Baby an ihre Brust, nicht das Stoffpüppchen, sondern ein richtiges Neugeborenes. Die weiche Stelle auf seinem haarlosen Kopf pochte im gleichen Rhythmus, wie das Baby saugte, und seine winzige Faust umklammerte eine lange, rote Ringellocke seiner Mutter. Der winzige, an ihre Haut gedrückte Mund nuckelte freudig, hielt dann inne, um Luft zu holen, setzte wieder an, wurde langsamer und hörte dann ganz auf. Alice zwickte in die winzigen Lippen, um dem Sog eine Ende zu setzen, und ließ dann ihre Brustwarze aus dem Mund des Babys gleiten, das aus einem Reflex heraus ein-, zweimal schluckte und die Lippen kräuselte, als erinnerte es sich, dass da etwas gewesen war. Und dann schlief der Kleine ein. Mein Blick verweilte auf Alices nackter Brust, als sie sie wieder in ihrem Kleid versteckte. Genau über der Brustwarze waren winzigste, auf Besen reitende Hexen eintätowiert, als flögen sie über einen Vollmond.
»Ist er nicht bezaubernd?«, sagte Jane. »Ein perfekter kleiner Junge. Zehn Finger und zehn Zehen.«
Alice reichte Dolly das Baby, die es aufrecht an ihre Schulter legte und ihm sachte auf den Rücken klopfte. Während Alice ihr Kleid richtete, schlängelte sie sich an mich heran und sagte: »Wenn seine Haare mal wachsen, werden sie auch rot sein, aber er hat deine Augen.«
»Wie bitte?«
Alle drei Frauen grinsten und glotzten mich an, als wäre ich ein seltenes Exemplar in einem Zoo.
»Ich habe keine Ahnung, was du damit andeuten willst«, sagte ich. »Wo zum Teufel kommt das Baby her?«
Der alte Mann legte mir seine knochige Hand auf die Schulter. »Ach, Kleiner, du willst mir doch nicht erzählen, dass du nicht weißt, wie das bei den Vögelchen und den Bienchen funktioniert? Wenn ein Mann und eine Frau sich lieben …«
Ich entwand mich seinem Griff. »Nein, das meine ich nicht … Die technischen Abläufe kenne ich, du alter Narr. Was ich wissen möchte, sind die Besonderheiten, die dieses besondere Kind von Alice betreffen. Als ich vor einer Minute das Bad verlassen habe, war es noch nicht da.«
»Neun Monate«, sagte er. »Oder genauer, vierzig Wochen, wenn alles gut verläuft.«
»Die Einzelheiten der menschlichen Schwangerschaft sind selbst einem Single wie mir bestens bekannt.«
Der kleine Junge rülpste laut wie ein Müllkutscher, und die anderen kicherten. Dolly übergab das Baby seiner Mutter, und Alice legte es in einem Zeitungsständer schlafen, in dem ich normalerweise mein Lesematerial fürs Badezimmer hortete, alte Ausgaben des Architectural Digest und interessante Nummern der wöchentlichen Beilage »Home« der Washington Post . Das Neugeborene jammerte, nachdem es nicht mehr auf dem Arm der Mutter war, fiel aber bald in tiefen Schlaf. Gebannt schauten wir alle minutenlang zu, als gäbe es nichts Faszinierenderes als ein schlafendes Baby. Womöglich sahen wir in der vollkommenen Hingabe des Kindes eine Fähigkeit, die uns lebensüberdrüssigen Erwachsenen verloren gegangen war.
Ich flüsterte Alice zu: »Du hattest doch kein Baby, als du durch den Spiegel flogst.«
»Nicht nötig, leise zu sprechen«, sagte sie. »Mit vollem Bauch schläft dieses Kind auch während eines Tornados weiter.«
»Aber du hattest kein Baby, als ich dich letzte Nacht sah.«
»Vielleicht stimmt etwas nicht mit deinem Gedächtnis«, sagte Alice. »Oder vielleicht mit deinem Zeitgefühl?« Sie blinzelte dem alten Mann zu, und auf ihrem geschlossenen Lid zeigte sich das dritte Auge, ebenso wie es bei den anderen gewesen war. Die Hexentätowierung zog sich quer über ihren Busen und verschwand unter dem roten Stoff auf der gegenüberliegenden Schulter.
Der alte Mann schlang seinen Bademantel sittsamer um sich und setzte sich auf den Klodeckel. »Ach ja, du hast uns von letzter Nacht erzählt. Etwas über eine Theatervorstellung im ehemaligen Zimmer deines ehemaligen Bruders? Über eine singende Frau.«
»O ja, ich weiß, wo ich stehen geblieben bin. Ich folgte dem Klang der Musik und betrat mein Haus, die schöne Stimme der Sängerin und das unverkennbar live gespielte Klavier lockten mich nach oben, obwohl es meines Wissens nie ein solches Instrument in diesem Haus gegeben hat. Es waren sieben
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