Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Frauen: die Sängerin und Klavierspielerin sowie fünf weitere, die in zwei Stuhlreihen saßen und der Vorstellung lauschten. Aber an ein Baby kann ich mich nicht erinnern.«
Von der Brust träumend, nuckelte das schlafende Baby in dem Zeitungsständer, und es war so real wie wir alle.
»Die Frauen nahmen kaum Notiz von mir, als ich das Zimmer betrat. Die Sängerin zuckte zwar zusammen, aber sie hörte nicht auf zu singen, und die Pianistin übersah keine Note. Einige der Zuschauerinnen schauten halbherzig, mit einer Vierteldrehung des Kopfes und einem Blick über die Schulter, in meine Richtung. Alle waren sie umwerfend, auch wenn sie seltsam altmodisch wirkten. Sie trugen Kostüme, wie man sie aus alten Cowboyfilmen kennt, wo der Typ in einen Saloon kommt, wo Mädchen in Petticoats und Samt, in glänzenden Krinolinen, in Netzstrümpfen und mit langen Handschuhen tanzen. Wie Marlene Dietrich in Der große Bluff oder Madeline Kahn als Lili von Shtupp in Der wilde, wilde Westen. Offene Truhen, aus denen Paillettenkleider und Federboas quel len. In den Szenen lachen die Mädchen, sitzen auf dem Schoß der Cowboys und fahren mit ihren Fingern durch pomadig glänzendes Haar oder haben sich oben auf einem Piano niedergelassen oder lehnen sich über den Pokertisch, beobachten das Spiel und warten darauf, dass ihnen ein Trottel einen Drink ausgibt.«
»Kneipenhockerinnen«, sagte Dolly.
»Flittchen«, sagte Jane. »Erinnert euch an Madeline Kahn: ›Was soll’s – alles von der Taille abwärts ist kaputt.‹«
Der alte Mann schlug sich auf die Knie und sandte eine Staubwolke und zwei benommene Motten in die Luft. »Schlampen? Huren? Schöne der Nacht?«
»Na, na«, stammelte ich. »Sie erinnerten eher an Cancan-Tänzerinnen.«
»Das ist alles verschlüsselt, mein Junge«, sagte der alte Mann. »Damals durften die Filme nicht alles offen zeigen und es auch noch benennen. Aber es waren Professionelle. Erst Geflirte mit den Jungs, damit sie mehr Alkohol kauften, und dann Geschmuse mit dem alten Kuhtreiber oben auf einem wackligen Bettgestell. Was du da gesehen hast, waren sieben Dirnen.«
Alice machte einen übertriebenen Knicks und wedelte mit den Röcken ihres Kleides. »Dirnen«, sagte sie. »Oh, das mag ich. Wie herrlich altmodisch und frauenfeindlich von dir.« Als sie lachte, zeigte sie ihre makellosen weißen Zähne und eine Zunge, die sich tänzelnd in ihrem engen Umfeld wand. »Nicht, dass ihr einen falschen Eindruck bekommt«, sagte ich. »Das waren keine Prostituierten, sie waren nur so gekleidet. Als spielten sie eine Rolle. Genau genommen verhielten sie sich – abgesehen von den Kostümen und dem Make-up – sehr kultiviert. Eine Tischdecke war auf der Anrichte ausgebreitet. Kuchen und Gebäck, petits fours, ein pfeifender silberner Samowar mit heißem Tee und Tassen aus feinem Porzellan. Kuchengabeln und Mokkalöffel. Weiße Stoffservietten. Kalte Bierflaschen, von denen Kondenswasser rann. Alles war sehr feierlich und elegant und zeugte von sorgfältiger Vorbereitung.«
Jane öffnete das Medizinschränkchen und holte ein kleines Tablett mit übrig gebliebenen Schnittchen und Kuchen heraus, die sie allen anbot. Als der alte Mann an die Reihe kam, zauderte er bei der Auswahl, bis er sich für ein mit Schokolade überzogenes Blätterteiggebäck entschied und es zart anknabbernd kostete. Kaum hatte die Süße seine Geschmacksnerven getroffen, riss er vor Vergnügen die Augen auf und stopfte sich das ganze Stück in den Mund. Krümel rieselten ihm von den Lippen, als er sprach. »Diese Cancan-Tänzerinnen in ihren Petticoats sind also auf ihren Fahrrädern zu deinem Haus gefahren – entschuldigt meine Bröselei – und haben dann dieses Konzert im ehemaligen Zimmer deines ehemaligen Bruders vorbereitet – für diesen Napoleonkuchen könnte ich sterben – und dazu auch noch einen high tea mit allem Drum und Dran?« Er leckte die Glasur von seinen Fingerspitzen. »Inklusive Kuchen?«
Ich nickte widerspruchslos. Ein kurzes Husten half ihm, den Rest hinunterzuschlucken, dann wandte er sich mit trockener Kehle an Jane. »Hast du in dem Medizinschrank nicht zufällig noch ein übrig gebliebenes Bier? Schau doch mal hinter dem Rasierschaum.«
Seine Logik vorausahnend, bot ich ihm eine Antwort auf seine nächste Frage. »Natürlich würde eine derart seltsame Situation normalerweise in mir eine raschere Reaktion auslösen: Was für eine Aufführung ist das hier? Oder: Was treibt ihr Frauen in meinem
Weitere Kostenlose Bücher