Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Haus?«
»Genau. Ein vollkommen natürlicher Gedankengang. In der Tat habe ich diese Art von Fragestellungen in deiner Schilderung schon viel früher erwartet. Warum hast du diese Fragen nicht sofort gestellt?«
Meine provisorische Antwort war ein Achselzucken. »Ich war wie vor den Kopf geschlagen …«
»Verhext«, sagte Alice und lachte.
»Ja, verzaubert, verwirrt. Als wäre ich in einen realen Tagtraum geraten. Und außerdem wollte ich das Lied bis zum Ende hören.«
Dolly lächelte, als verschaffte ich ihr eine Art mütterlicher Befriedigung. »Er war einfach nur höflich.«
Mit einem forschen Knacks öffnete Jane eine Flasche Bier für den alten Mann. Als sie sie ihm gab, fügte sie hinzu: »Er ist dazu erzogen, auf Anstand und Etikette zu achten. Einen Gentleman erkennt man immer an seinen guten Manieren und an seiner schicklichen Erziehung.«
Der alte Mann nahm einen tiefen Schluck und stand dann auf, wobei die Krümel von seinem Schoß zu Boden fielen. »Du warst ein braver Junge, hast deinen Eltern gehorcht und dein Zimmer aufgeräumt. Ein Junge, der sich mit einem Buch oder einem Stift und Papier allein beschäftigen konnte; immer hast du in der Ecke deines Schlafzimmers gezeichnet, Gebäude und Ähnliches. Und auch die Regeln hast du befolgt: Immer auf der Straßenseite gehen, wenn du mit einer Dame auf dem Bürgersteig spazierst, Fremden mit Paketen die Tür aufhalten, alten Damen über die Straße helfen und all diese Dinge. Du warst ein braver Junge, vielleicht zu brav.«
Seine Eindrücke ermutigten ferne Erinnerungen, von meinem Hippocampus abzulegen. »Du scheinst eine Menge über mich und mein Leben zu wissen. Ich wollte dich schon die ganze Nacht fragen: Bist du mein Vater?«
Die drei Frauen im Raum kicherten, entweder über die Naivität oder die Kühnheit meiner Frage, und hektisch flüsterten sie über diesen neuesten Klatsch. Das schlafende Baby regte sich im Zeitungsständer, ein Traumbild verzerrte sein rundes Gesichtchen und quälte seine zarte Seele. Es schlug die Beine zusammen wie ein Laubfrosch und reckte dann eine abwehrende Faust, nur um sie in Zeitlupe wieder sinken zu lassen, als es sich wieder entspannte. Welche Träume mochte ein so junger Mensch haben? Welche Träume suchen uns im Mutterleib heim? Sollte Bachelard damit recht haben, dass es jeden Morgen nach dem Aufstehen notwendig ist, die Hirngespinste und Schatten unserer Träume hinauszufegen, was wird dann hinausgefegt, wenn ein Kind geboren wird und zum ersten Mal in dieser Welt erwacht? Erinnert es sich an irgendetwas aus einer vorherigen Existenz?
»Willst du auf eine direkte Frage nicht antworten?«, hakte ich nach. »Du siehst zwar nicht genauso aus wie mein Vater, oder zumindest nicht so, wie ich ihn in Erinnerung habe, aber du hast einige Charakteristika meiner Familie, und würde er noch leben, wärest du im richtigen Alter. Und du behandelst mich wie einen Sohn, mit dieser Mischung aus Liebe und Geringschätzung. Soll ich raten?«
Er schlürfte die Neige seines Biers und stellte die leere Flasche auf die Fensterbank. Einige Krümel hingen am Kragen und an den Ärmeln seines Frotteebademantels, er pickte sie auf und rollte sie zwischen Daumen und Mittelfinger, nur um das Bröckchen auf den kleinen Teppich vor der Toilette fallen zu lassen. Mit den Zehen seines linken Fußes schaukelte er den Zeitungsständer wie eine Wiege, während er leise ein altbekanntes Schlaflied summte und jeden Einzelnen von uns anschaute, ohne mir jedoch in die Augen zu sehen, bis sein Blick schließlich auf seinem runzeligen Spiegelbild haften blieb. Verwundert über sein Aussehen, fuhr er sich mit den Fingern durch sein abstehendes Silberhaar.
»Weichst du mir bewusst aus?«, fragte ich ihn.
Er rollte mit den Augen, plötzlich hielt er inne und starrte auf eine Stelle genau über meinem Kopf. »Nicht, weil ich das Thema wechseln möchte«, sagte er, »aber hast du in diesem Bad einen dieser kleinen elektrischen Ventilatoren eingebaut, die den Dunst abziehen und die Luft zirkulieren lassen?«
Gereizt antwortete ich: »Ja, einen Deckenventilator.«
»Ist der normalerweise schwarz und aus Gusseisen?«
Ich schaute nach oben. Da, wo sonst der Deckenventilator war, schien sich eine weitaus größere schwarze Scheibe ihren Weg durch den Putz zu bahnen. Statt dass der Ventilator surrte, ächzte und riss die Decke.
»Würdest du freundlicherweise«, bat der Alte, »zwei Schritte nach links oder nach rechts machen?«
Das Objekt an
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