Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Lieder des Bambara-Volks auf den Lippen, zumindest wenn keine Buckra in der Nähe waren. Sie war Dienerin in einem Haushalt …«
Der alte Mann drehte sich zu der Frau. »Möchtest du, dass ich ›Sklavin‹ sage?«
»Dieses oder jenes, egal«, antwortete Marie. »Damals nannten wir uns Dienerinnen, doch in Wahrheit waren wir Gemeineigentum und hatten nicht mehr Rechte als eine Henne auf einem Bauernhof und wurden auch oft nicht besser behandelt.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Ja, Sklavin ist das bon mot .« »Und die Buckra? Comment est-ce qu’on dit en français? «
»Die Franzosen«, sagte sie und drehte den Kopf, sodass ich die Schwere in ihrem Blick erahnen konnte. »Die Weißen.«
»Sie war Haussklavin auf der Plantage von Monsieur Delhomme in Saint-Domingue, und mein Papa war Sklave in den Zuckerrohrfeldern, und er zeugte mich und meine jüngere Schwester Louisa, doch bei der jüngsten, Claire, wer weiß, war es vielleicht mein Papa oder vielleicht Monsieur Delhomme, das ist schwer zu sagen. Schon als Baby war Claire heller als wir. Macht auch keinen Unterschied, denke ich. Der Master hat sie nie anerkannt, und mein Papa behandelte sie nie anders als sein eigenes Kind. Madame Delhomme mochte vielleicht vermutet haben, dass ihr Mann etwas mit dem Negerbaby zu tun hatte, aber, um ehrlich zu sein, wenn du klein bist, ist das Verhalten von Erwachsenen oft schwer einzuschätzen, weil es so hintergründig ist, besonders für ein Mädchen wie mich, dem jeder Erwachsene, ob weiß oder schwarz, ein Rätsel war. Ihre Stimmungen änderten sich so rasch wie der Himmel im Spätsommer, im Handumdrehen von strahlend hell zu wolkendüster, und am besten war es, sich davon nicht beeindrucken zu lassen, sondern stets wachsam zu sein.
Madame hatte wenig Gelegenheit, Claire oder Louisa zu begegnen, denn die beiden hatten keinen selbstverständlichen Platz im Haus, wohingegen ich als Spielgefährtin für das jüngste Kind der Delhommes, ein Mädchen namens Anna, das etwa mein Alter hatte oder ein Jahr jünger oder älter war, dauernd zugegen war. Sie war meine einzige Freundin auf der Welt und ich ihre. Elf Jahre lang wuchsen wir gemeinsam auf, wir spielten, aßen manchmal das gleiche Mahl, badeten sogar zusammen und teilten das Bett in jenen Nächten, wenn sie mich nicht gehen lassen wollte und ihre Mutter darum bat, dass ich bleiben dürfe. Unter dem Moskitonetz las sie mir Märchen und Geschichten aus der Bibel vor, und wenn wir in den vielen Jahren allein waren, brachte sie mir das Lesen bei, obwohl Bedienstete das eigentlich gar nicht lernen sollten, aber wir hatten unsere Schule hinter dem Plumpsklo oder verborgen zwischen den wachsenden Zuckerrohrpflanzen; und in den Staub von Saint-Domingue habe ich zum ersten Mal meinen Namen und anderes geschrieben. Anna liebte mich mehr als den kleinen Hund, der uns überallhin begleitete, und sie kleidetet mich ein, hielt meine Hand und pflegte mich liebevoll, wenn ich krank war. Sie behandelte mich wie eine poupée … «
»Puppe«, sagte Marie. »Manchmal auch wie eine Vertraute, doch als wir älter wurden, erkannte sie schließlich, dass ich ihr gehörte und sie mit mir machen konnte, was sie wollte.«
Das Baby im Zeitungsständer jammerte ein wenig im Schlaf und fiel rasch wieder ins Land der Träume. Als der alte Mann die Fortsetzung auf Maries nackter linker Schulter fand, nahm er seine Übersetzung wieder auf.
»Sie behandelte mich wie ihre Puppe, und ich war – wie die meisten Kinder – mir zum Glück nicht bewusst, dass die Dinge auch anders sein konnten oder sollten. So ist das auf der Welt. All das änderte sich plötzlich, als Monsieur Delhomme am Fieber erkrankte, in den Zuckerrohrfeldern starb und ohne Ankündigung diese Welt verließ. Er war ein guter Mann und behandelte uns sehr freundlich, und die Sklaven der Plantage trauerten um ihn, nicht nur aus Pflicht, sondern aus aufrichtiger Betroffenheit. Meine Mutter weinte den ganzen Nachmittag, und selbst mein Papa vergoss eine Träne, rückblickend vielleicht nicht nur aus Kummer, sondern weil er wusste, dass Veränderung bevorstand. Und tatsächlich kam der Ranger … wer ist das?«
»So etwas wie der Aufseher«, sagte sie, »aber ein Sklave. Ein Sklave über den Sklaven.«
»Nicht einen Monat später kam der Ranger mit der Nachricht zu uns, Madame Delhomme, nun Witwe, werde den Besitz verkaufen und nach Frankreich zurückkehren, denn sie habe großes Heimweh und glaube zudem, dass ihre kleine Anna durch
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