Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
hatten nie mehr als zwei Handschuhe für ihre vier Hände. Wie sie es überhaupt geschafft hatten, diese Kinder großzuziehen, blieb ihrer Mutter immer ein Rätsel. Die drei Mädchen heirateten jung die ersten Männer, die ausreichend Interesse zeigten und um ihre Hand anhielten, und die Jungen verließen früh das Haus, um ihr Glück zu suchen. Der junge John C. landete bei Mr. Hearst’s Enterprises, und einer der Zwillinge machte sich ’76 auf zum Goldrausch in den Black Hills von Dakota, doch in jenem Sommer setzte ein Sioux dem Leben des Jungen ein Ende. Der andere Zwilling verließ die Mühsal des irdischen Lebens in einer Opiumhöhle, in Begleitung einer Japanerin, die behauptete, seine rechtmäßige Ehefrau zu sein, obwohl ihr diese Behauptung aus dem Haus der Worths nichts einbrachte, denn da gab es nichts mehr.
Es lag nicht an mangelndem Bemühen vonseiten Flos. Sicher, sie hatte Jamie anfangs verhätschelt, hatte ihm Zeit gelassen, sich von den Schicksalsschlägen zu erholen, zuerst vom Aktienverfall, dann vom Erdbeben und den Schäden am Haus; aber nach einigen Monaten begann sie ihn zu fragen, wann er gedenke, sich eine Arbeit zu suchen oder mit anderen Mitteln Geld aufzutreiben. »Zu gegebener Zeit«, antwortete er stets. »Jetzt beabsichtige ich, mich für ein Weilchen auszuruhen.« Da aber ihre Mam immer an ihrem Paps herumgenörgelt und ihn gepiesackt hatte, wartete sie ab und biss sich auf die Zunge, bis sie sie beinahe abgebissen hätte.
Irgendwann einmal war einer, womöglich Eben oder einer der Zwillinge, auf eine Leiter gestiegen und hatte ein Brett vor den Spalt in der Wand unter dem Dach genagelt, was nun den Nachthimmel verdunkelte, aber dennoch betrachtete Jamie weiterhin jede Nacht gewissenhaft den Sternenhimmel, nun nur stückchenweise. Nachdem viele Jahre vergangen und die Kinder erwachsen und aus dem Nest geflogen waren, erwies sich der Zug der Schwerkraft auf beiden Seiten des Spalts als zu stark. Einer nach dem anderen ploppten alle Nägel heraus, und das Brett fiel laut krachend zu Boden. Zerzaust, weich, aufgedunsen und mit seinem alten seidenen Morgenmantel bekleidet, setzte der Mann im Ohrensessel ein zufriedenes Lächeln auf. »Endlich«, sagte er, und gleich am nächsten Tag stand Jamie früh auf, rasierte sich und verließ das Oktogonhaus, nachdem er seiner Frau angekündigt hatte, er gehe hinaus, um nach ihrem Glück zu suchen, und sie solle an diesem Abend oder in absehbarer Zeit nicht auf seine Rückkehr warten. Sie knurrte ein Auf Wiedersehen und sah dem alten Faultier nach, das die Zufahrt hinunterschlenderte und verschwand.
Tage später kläffte der kleine Hund die Tür an, sodass sie glaubte, ihr Mann komme zurück. Stattdessen brachte die Post ein Paket. Sie öffnete es und fand darin eine rote Lackschatulle voll mit Geldscheinen von der First National Gold Bank of San Francisco; die Fünfer, Zehner und Hunderter waren ausreichend, ihren Lebensstil zu verändern. Oben auf den Scheinen lag ein Brief in der Handschrift ihres Mannes: »Damit solltest Du bis zu meiner Rückkehr Dein Auskommen finden. Ich muss mich von meinen Anstrengungen ausruhen. Dein Jams.«
Sie drehte sich zu Eben, der, seitdem sie das Paket geöffnet hatte, sprachlos war, und fragte ihn: »Was soll man davon halten? Wo kommt das ganze Geld her? Wo ist Jamie, und wann kommt er nach Hause?«
»Mich überrascht nichts mehr auf dieser Welt«, sagte Eben. »Ich habe keine Antwort auf deine Frage. Aber dies sieht für mich nach einer chinesischen Schatulle aus. Vermutlich erfahren wir es, wenn er sich fertig ausgeruht hat.«
Sie warteten auf seine Rückkehr in das alte heruntergekommene Haus, warteten Tag und Nacht, Woche für Woche. Währenddessen beobachteten sie, wie die Sterne durch das Loch in der Wand schienen, bedrängten zweimal am Tag den Briefträger, er möge noch einmal genau nachsehen, ob nicht doch ein Brief dabei sei, gingen abwechselnd über die hügeligen Straßen zu seinen alten Lieblingsplätzen, tauchten in die Höllen ein und stellten Nachforschungen an bei den Banken. Keiner seiner alten Freunde konnte sich erinnern, wann er ihn das letzte Mal innerhalb oder außerhalb des Oktogonhauses gesehen hatte, und keiner seiner alten Geschäftspartner oder Mitspekulanten konnte sich überhaupt an den alten James Worth erinnern. Als aus den Monaten Jahre wurden, gaben sie die Hoffnung auf die Heimkehr des verlorenen Bruders und Ehemanns auf. Er war vom Erdboden verschwunden und hatte zum
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