Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
immer diese Lackschatulle fest umklammert, man musste sie ihrer Hand entwinden. Als man die Schatulle öffnete, fand man witzigerweise nur einen alten Kamm, eine silberne Taschenuhr und ein rostiges Rasiermesser. Nicht einen einzigen Cent. Sie hatte alles zur Bank gebracht, einige wenige Aktien gekauft und von den Zinsen gelebt. Der chinesisch-amerikanischen Wohltätigkeitsgesellschaft hinterließ sie ein kleines Vermögen.«
Der letzte Abschnitt ihrer Geschichte ließ mich ein gewisses Bedauern für die Härte und die Einsamkeit empfinden, die sie in den letzten Jahrzehnten erlitten hatte. Zugleich freute es mich, zu hören, dass sie weder die Schatulle noch das Geld verloren hatte. Und als Architekt war ich außerdem begeistert, dass das achtseitige Haus annähernd sechzig Jahre lang den Erdbeben standgehalten hatte, abgesehen vom Loch in der Wand. Heute werden solche Häuser bestimmt nicht mehr gebaut. Beinahe instinktiv begann ich, in meiner Fantasie Pläne für ein modernes Oktogonhaus zu entwerfen, mit zwei Stockwerken und einem Dachgeschoss, und ich war damit so beschäftigt, dass ich mich in meinen tröstlichen Fantasien verlor. Vielleicht lag es am Beispiel des Mannes, der verzweifelt nichts anderes als ein Bett suchte, jedenfalls breitete sich in mir eine abgrundtiefe Müdigkeit aus; und möglicherweise war ich eingeschlafen, denn das Nächste, woran ich mich erinnerte, war das Geräusch, als der alte Mann nah an meinem Ohr mit den Fingern schnippte.
»Wach auf, Kleiner. Die Nacht ist jung, und wir sind es auch.« Die fünf Frauen kicherten über diese Bemerkung. »Du warst gerade dabei, zu berichten, dass die tanzenden Damen des Alten Westens dich mit Umarmungen und Küssen überfielen.«
Eine Art gelber Nebel verschleierte meine Sicht, und als ich ganz erwachte und mir die Erschöpfung aus den Augen rieb, saß da vor mir auf Becketts Schoß das Kind, das nun einige Monate älter war. Es sah eher aus wie zwei Jahre denn wie eines, und als es lächelte, schimmerten acht Zähne in seinem leuchtend roten Mund.
»Damit wir bei deiner Saga nicht wieder unterbrochen werden, wäre es vielleicht klug, etwas Nahrung für unseren jungen Freund aufzutun. Hast du womöglich irgendeinen Melba-Toast in deiner Speisekammer? Allerdings bevorzugen sie heute offenbar Frühstücksflocken in der Form von Schwimmringen. Bananenscheibchen. Kalte o-förmige Spaghetti. Eigentlich alles, was klein genug ist, dass sie es mit ihren Fingerchen greifen können, aber auch weich genug, dass sie nicht ersticken, wenn sie es im Ganzen verschlucken.« Zur Seite flüsterte er: »In diesem Alter fühlen sie sich unabhängig, wenn sie selbstständig essen können, und vollkommen egal, dass sie dabei einen heillosen Saustall anrichten. Hast du vielleicht einen kleinen Leckerbissen im Haus?«
Ich erklärte ihm, dazu sei eine Inspektion der Vorratskammer nötig.
Beckett wandte sich direkt an den Hosenmatz. »Was meinst du, junger Mann, wäre etwas Happihappi in Ordnung?«
»Zzicher«, antwortete das Baby.
Mit einer Verbeugung nahm ich seine Wünsche entgegen und zog mich aus dem Badezimmer zurück.
Dankbar für die Stille und die Leere des Treppenhauses, hielt ich mit der Hand noch am Türknauf inne und überdachte mein Dilemma. Obwohl dies seit Langem mein Haus war, empfand ich es wie ein fremdes Land, in dem die ganze Nacht, seit ich nackt und blutend auf dem Boden wieder zu mir gekommen war merkwürdige Dinge geschahen. Nein, noch davor. Merkwürdigkeiten hatten sich zugetragen seit dem Augenblick, als ich nach Hause gekommen war und sieben Fahrräder entdeckt hatte, die im Vorgarten lagen. Oder vielleicht noch früher? Ich versuchte, mich an das letzte normale Ereignis zu erinnern, und verfolgte meine Schritte bis vor meiner Heimkehr zurück, doch mein Gedächtnis verließ mich. Das Einzige, woran ich mich wirklich erinnern konnte, war, mitten in der Nacht aufgewacht und zum Badezimmer gegangen zu sein.
Der Türknauf ruckelte in meiner Hand, also ließ ich ihn los und eilte hinunter, um nach etwas Essbarem für das Kind zu suchen. Auf dem unteren Treppenabsatz warf ich einen Blick nach rechts und sah, dass sich im Wohnzimmer alles verändert hatte. Die weißen Wände waren meergrün gestrichen, und das ganze Dekor hatte sich von meinem eher traditionellen Gustav-Stickley-Stil zu einer geleckten Stilmixtur gewandelt. Die Richtung erinnerte vage an Art déco, doch die Möbel waren eine Mischung aus
Weitere Kostenlose Bücher